Weltwoche Kommentar 28/22

Kommentar

Gut und Böse

D

er Moralismus ist die Seuche unserer Zeit. Moralismus hat nichts mit Moral zu tun. Moral ist die Gesamtheit aller Regeln, die ein erfolgreiches Zusammenleben möglich machen. Moralismus ist die Neigung, sich selber für gut und alles andere für böse zu erklären. Moralismus ist Selbstherrlichkeit, Verblendung, Arroganz, Tugendkult, Gut- scheinen-Wollen, statt Gutes zu tun.

Womit wir bei den Sanktionen gegen Russland wären. Sie sind psychologisch erklärbar, aber sachlich falsch. Sie erreichen ihre Ziele nicht. Die Kollateralschäden sind verheerend. Sie verlängern den Krieg und schüren die Gefahr einer Eskalation. Die Sanktionen bringen das Gegenteil von dem, was sich der Westen davon verspricht: Sie schaden den Guten, erdrücken die Armen, stärken die Bösen.

Wie das?

Die Logik hinter den Sanktionen lautet: Wir hungern Putins Wirtschaft aus und seine «Oligarchen ». Wir säen Unzufriedenheit in Russland und stacheln die mächtigsten Financiers gegen den Herrn im Kreml auf. Die Russen werden sich erheben, die «Oligarchen» werden Putin stürzen. Die Kriegsmaschine des Diktators bricht zusammen. Der freie Westen triumphiert.

Ohne das geringste Opfer, ohne einen Tropfen eigenes Blut.

Wie sieht die Wirklichkeit aus? Die russischen Truppen marschieren voran. Die Ukrainer kämpfen wie Löwen, fallen aber ausgelaugt zurück. Die Palastrevolte gegen Putin bleibt aus. 84 Prozent der Russen stehen heute hinter ihrem Präsidenten, fast doppelt so viele wie vor dem Krieg. Die Sanktionen treiben die Energiepreise nach oben und füllen Russlands Kassen.

Natürlich schaden die Sanktionen auch den Russen. Sie versehren den privaten Sektor, zerstören Firmen, die dann der Kreml übernimmt. Verstaatlichung! Unfreiwillig züchten wir eine Sowjetunion 2.0, einen Staatskoloss, aber muskulöser als die alte, weniger gebrechlich, während die russische Marktwirtschaft, Grundlage einer bürgerlichen Gesellschaft, durch unsere Sanktions-Politik zuschanden geht.

Mehr noch: Die Sanktionen treffen alle Russen, egal, ob für oder gegen Putin. Sie schaffen eine im Ressentiment gegen den Westen geeinte Hassgesellschaft, die sich ungerecht behandelt fühlt. Die Schweiz macht mit. Sie setzt, geblendet vom Moralismus, gegen reiche Russen die Menschenrechte ausser Kraft, nimmt ihnen die Häuser weg, das Vermögen, den Schutz unserer Gesetze.

Die Sanktionen fressen den Rechtsstaat an, zersetzen unsere eigenen Werte.

Kein Missverständnis: Russland ist eine Autokratie. In seiner tausendjährigen Geschichte ist Russland noch nie demokratisch regiert worden. Die Frage ist, ob unsere Sanktionen dazu beitragen, Russland demokratischer zu machen. Die Antwort lautet: Nein. Sie machen Russland weniger demokratisch, kochen giftigen Nationalismus hoch. Das kann nicht unser Ziel sein.

Moralismus heisst, die Folgen des eigenen Handelns auszublenden. Ein Beispiel: Europa boykottiert russische Kohle. Deshalb verkaufen die Russen ihre Kohle in rauen Mengen nach China. China wiederum verkauft einen Teil der russischen Kohle an Australien. Schliesslich kauft die EU einen Teil dieser Kohle den Australiern ab – zu massiv höheren Preisen. Auch solcher Irrsinn treibt die Inflation.

Die Sanktionen schaden den Russen, stärken den Kreml und schwächen unsere Wirtschaft. Am härtesten aber treffen sie die Länder in der Dritten Welt, die die Preisexplosionen von Getreide und anderen Rohstoffen, anders als Europa, nicht in einem Ozean von Schulden versenken können. Hungerkrisen und Migrationswellen werden die unmittelbaren Folgen sein.

Darüber hinaus bewirken die Sanktionen den Schulterschluss der antidemokratischen, antiwestlichen Kräfte. Die Drittweltstaaten können nichts für den Krieg. Sie leiden aber am meisten unter den Sanktionen. Russland und China strecken die Hand aus. Sie schmieden eine neue Welt-Achse des Ressentiments gegen den demokratischen Westen.

Die USA, die EU, die Schweiz müssen sich fragen, ob sich die Politik der Sanktionen mit dem eigenen Anspruch auf moralische Vorbildlichkeit verträgt. Der Westen hält sich für eine Wertegemeinschaft. Wesentliche Teile der Menschheit empfinden diese Werte inzwischen als Hohn und pure Heuchelei, als Arroganz, die Millionen in Hunger und Elend stürzt. Verschärfte politische Spannungen und Militarisierung sind die Konsequenz.

Die Politik der Sanktionen ist gescheitert. Sie bringt nicht die gewünschten Resultate. Im Gegenteil. Sie produziert Wirtschaftskatastrophen und eine Welt, in der sich immer mehr Staaten der Autokratie zuwenden. Das Schwarzweissdenken, der Moralismus, neudeutsch: «Wokeness », macht blind, führt in die Irre. Rechtsstaat und Wohlstand gehen kaputt. Wir müssen in die Wirklichkeit zurück.

Viele Meinungszampanos machen jetzt auf Churchill. Sie fordern den totalen Krieg gegen Putin, den neuen Hitler. Sie behaupten, die Freiheit des Westens stehe in der Ukraine auf dem Spiel. Das Pathos der Talk-Show-Helden aber scherbelt. Selber kämpfen wollen sie nicht. Auch die Nato soll in ihren Kasernen bleiben. Die Moralisten lassen – so inkonsequent – die Ukrainer für ihre Sache sterben.

Wenn man den Gegner militärisch nicht besiegen kann oder will, muss man verhandeln. Ihr Moralismus hindert die westlichen Führer und ihre Medien aber daran, die realpolitische Variante ernsthaft zu erwägen. Sie gefallen sich in Posen glamouröser Sturheit, gratismutig bereit, in diesem Krieg, den andere für sie ausfechten und ausbaden, aufs Ganze zu gehen.

Verhandeln heisst nicht kapitulieren. Hier irren die Kritiker, die auf Hitler verweisen und auf das britische «Appeasement» der Vorkriegszeit. Falsche historische Analogien produzieren eine falsche Politik. Die Fortführung einer gescheiterten Strategie allerdings, erkannte schon Einstein, ist Wahnsinn. Wer Frieden will und keinen langen Krieg, muss mit Putin verhandeln.

R.K.

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