Durch diese Hohle Gasse
Dies kleine Volk ist uns ein Stein im Weg –
so oder so – es muss sich unterwerfen.
Landvogt Gessler im Drama
«Wilhelm Tell» von Friedrich Schiller
Kaum einer hat die Schweiz besser verstanden als der deutsche Dichter Friedrich Schiller. Das Drama «Wilhelm Tell» ist das in sagenhafter Zeit spielende ewige Drama unseres Landes: die Verteidigung der Freiheit gegen die verführerische Knute, die Selbstbehauptung gegen Knechtschaft und Unterjochung, das schroffe Nein der Unabhängigkeit gegenüber dem Drängen mächtigerer Nachbarn, sich die Schweizer untertan zu machen.
Das Zitat am Anfang dieses Artikels findet sich im letzten Dialog des Landvogts Gessler, ehe ihn Wilhelm Tell vom Sattel schiesst in der «Hohlen Gasse», der Outlaw mit der Armbrust, der Alpencowboy, eine Art wandelnde Unabhängigkeitserklärung, der das Recht selber in die Hand nimmt, um es wieder einzurenken, der glorreiche Freiheitsterrorist der Berge, der den Eidgenossen hilft, ihre alte Rechtsgemeinschaft wiederherzustellen gegen Gesslers Tyrannei.
Mit dem kristallklaren Blick des deutschen Idealisten und Aufklärers schaut der Schriftsteller tief ins Wesen unseres Staates. Gessler spricht aus, was viele Gesslers nach ihm, von Ludwig XIV. über Napoleon und Hitler bis hin zu von der Leyens EU und Selenskyjs Waffen, in der Schweiz gesehen haben: einen Stein des Anstosses, ein Ärgernis und Hindernis. «Das kleine Volk» der Eidgenossen ist, bis heute, der «Stein im Weg» der Euro- und Autokraten. Es soll sich gefälligst unterwerfen.
Legionen haben sich an dieser Schweiz schon die Zähne ausgebissen. Selbst der Franzosenkaiser Napoleon, am Gipfel seiner Macht im19. Jahrhundert, musste zermürbt das Handtuch werfen: «Glückliche Umstände haben mich an die Spitze des französischen Staats geführt, aber ich sehe mich gänzlich ausserstande, die Schweizer zu regieren.» Ähnlich verzweifelt hören sich heutige EU-Bürokraten an, die uns in die Zwangsjacke ihrer institutionellen Bevormundungen stecken möchten.
Wie viel süsser ist es doch, ja zu sagen, kraftlos hinzusinken unter das freundlich hingestreckte Joch.
Die Schweiz ist anders, oder sie ist nicht mehr die Schweiz. Mit entwaffnender Offenheit gibt es Gessler zu. Es geht darum, den «Stein im Weg» wegzuräumen, das «kleine Volk zu unterwerfen». Dahinter steckt nicht böse Absicht. Es ist die kalte Herrschaftslogik des Verwaltungsstaats. Die Schweiz, von unten nach oben organisiert, ist dessen Gegenteil – heute einer Europäischen Union, die von oben nach unten wirkt. Wie soll man zusammenfügen, was natürlich auseinanderstrebt?
Schiller hat es erkannt. Die Mehrheit der Schweizer Politiker neigt dazu, diese Urtatsache schweizerischer Staatlichkeit zu übersehen. Die Schweiz steht einer EU, wie sie sich heute präsentiert, genauso unversöhnlich und unverdaulich gegenüber wie die alte Eidgenossenschaft den sie einst belauernden Monarchien oder der angeblichen Vernunftdiktatur des Feldherrn aus Korsika. Wer die Schweiz einer fremden Verwaltung unterstellt, vergewaltigt sie, bringt sie zum Verschwinden.
Mit dieser Einsicht ist kein Schlachtruf, keine Kriegserklärung an die Europäische Union verbunden, nur die höfliche Mahnung, dass die Schweizer nicht vergessen, wer sie sind, was sie sich zumuten und anderen versprechen dürfen. Der Schweizer verheddert sich da gern in den Widersprüchen seines Seins. Zum einen sind wir freundlich, überfreundlich und offen, multisprachliche Weltmeister im Lippenlesen und in der Erfüllung auswärtiger Wünsche.
Tief in ihrem Innern sind die Schweizer, zur friedlichen Koexistenz verdammt auf engstem Raum, auf Harmonie gepolt, lieber eine verlogene als keine, auf die Vermeidung von unnötigen Konflikten und Reibereien, auch wenn es dazu führen sollte, die eigenen Interessen zu verschlucken. Unter den Völkern dieser Erde ist der Schweizer der Hotelier, das Genie der Einfühlung, der Händeschüttler am Eingang, der aber auch froh ist, wenn die Gäste sein Haus irgendwann wieder verlassen haben.
Das bringt ihn zwangsläufig in Gegensatz zu seiner Verpflichtung, das eigene Staatswesen, seine Freiheit und Demokratie notfalls gegen auswärtige Begehrlichkeiten zu verteidigen, die eigenen Interessen nicht im Schaumbad eines bequemen Einvernehmens zu versenken, sondern die Zähne zu zeigen, Grenzen zu ziehen. Dass dies den Eidgenossen schwerfällt, hat Schiller wunderbar erfasst. Es braucht einen Gesetzlosen, der den Vögten im Sinnbild des Pfeils sein Nein entgegenschleudert, den Tell, der sich traut, wovor die anderen zurückschrecken.
Wie viel süsser und leichter ist es doch, ja zu sagen, einzuknicken, sich fallenzulassen, kraftlos hinzusinken unter das freundlich hingestreckte Joch. «Es kostete ein einzig leichtes Wort», schreibt der Dramatiker, «um augenblicks des Dranges los zu sein, und einen gnäd’gen Kaiser zu gewinnen.» Dieser ewigen Verführung, dem goldenen Käfig zu widerstehen, der Freiheit zuliebe den dornigen, den quälenden, den mutigen Weg zu gehen, das ist der Auftrag, den Schiller in unsterblichen Worten den Schweizern mitgegeben hat.
R.K.