Weltwoche Kommentar 26/23

Kommentar

Krieg und Frieden

Der Russe aber ist gerade deshalb selbstbewusst,
weil er eben nichts weiss und auch gar nichts wissen will,
weil er nicht glaubt, dass es überhaupt möglich ist,
irgendetwas zu wissen.

Leo Tolstoi
A

ls Napoleon 1812 in die unendlichen Weiten Russlands eindrang, hatte er nicht die geringste Ahnung, nicht die mindeste Vorstellung davon, dass dies der Anfang vom Ende seiner Herrschaft sein würde. Seine Truppen marschierten unvorbereitet in sommerlicher Aufmachung. Der «Empereur» war sich auch nicht der Gefahren bewusst, die sein über Kilometer ausgestrecktes Heer für ihn selber bedeutete. Die Besetzung Moskaus war nie Teil eines Plans des als Feldherrengenie geltenden Franzosen gewesen. Sie ergab sich aus der Verwicklung der Ereignisse.

Umgekehrt hatten die Russen niemals vor, den Franzosenkaiser in die endlosen Steppen ihres Mutterlands hineinzulocken. Was russlandtreue Historiker im Rückblick schmeichelnd als brillanten Schachzug der Zermürbung deuten, war niemals eine bewusste Strategie. Ganz im Gegenteil. Die tonangebenden Kreise im zaristischen Generalstab wollten Napoleon schon an der Grenze stoppen. Doch die innere Zerklüftung des russischen Kommandos, das schiere Chaos der militärischen Führung verhinderte bis Borodino eine grosse Schlacht der beiden Armeen.

So stellt es in seinem gewaltigen Roman «Krieg und Frieden» der russische Schriftsteller Leo Tolstoi dar, nur wenige Jahrzehnte nach den tatsächlichen Vorgängen. Er warnt die Leser davor, ein so komplexes und von unzähligen Zufällen bestimmtes Geschehen wie den Krieg als vom Menschen beherrschbares Instrument zu betrachten. Kriege sind ein Vulkanausbruch von Kräften und Gegenkräften, die eine teuflische Eigendynamik entfalten und selbst die, die glauben, sie zu überblicken und zu kontrollieren, die grössten Heerführer und «Genies» wie einen Napoleon, in die Irre führen.

Putin, Biden und Selenskyj, aber auch unsere Bundesräte und Journalisten, im Grunde alle, die der Meinung sind, über den heutigen Krieg in der Ukraine Bescheid zu wissen, einen Krieg, der immer stärker auch auf Russland übergreift, sollten Tolstoi lesen. Vielleicht könnte sie die Lektüre zur Besinnung, zur Einsicht in den finsteren Wahnsinn ihres Treibens bringen. Von Tolstoi lernen wir ausserdem, dass ein Krieg nie die Alleinschuld eines Einzelnen ist, sondern ein Gemeinschaftswerk von vielen, in dem auf verschlungene Weise die daran beteiligten Mächte zerstörerisch zusammenwirken.

Aus Tolstois Buch stammt auch das eingangs aufgeführte Zitat. Es findet sich in einer grossartigen Passage, in der sich der Autor anhand einer Besprechung des russischen Generalstabs Gedanken macht über den Charakter der Grossmächte seiner Zeit. Die Deutschen zum Beispiel, schreibt er, seien «hoffnungslos, unabänderlich und bis zur Selbstqual von sich selber überzeugte Menschen», weil nur die Deutschen ihr Selbstbewusstsein «auf eine abstrakte Idee, auf die Wissenschaft gründen, die sie sich selber ausgedacht haben und nun für die reine Wahrheit » halten.

Beim Engländer wiederum fusse das Selbstbewusstsein auf der Tatsache, dass er «ein Bürger des bestfundierten Staates der Welt» sei, und «auf der Überzeugung, dass er als Engländer immer weiss, was er zu tun hat, weil das, was er als Engländer tut, immer zweifellos gut ist». Der Franzose hingegen sei selbstbewusst, weil er sich «persönlich geistig sowie auch körperlich Frauen und Männern gegenüber für bezaubernd und unwiderstehlich hält». Ersetzen wir das Wort «Engländer» durch das Wort «Amerikaner», haben wir ein taugliches Schema zur Beurteilung heutiger Akteure.

Tolstoi wusste, worüber er schrieb. Er hatte als Adeliger und Offizier in der russischen Armee gedient. Er war sich darüber im Klaren, dass Kriege, während sie toben, weder durchschaubar noch beherrschbar sind. Mit Entsetzen, ist zu vermuten, hätte er sich heute gegen all die weitab vom Geschehen schreibenden und predigenden Meinungsgeneräle gewandt, die uns einreden wollen, die eine oder die andere Seite sei auch nur im Entferntesten imstande, das von ihnen gemeinschaftlich entfesselte Monster in die von ihnen gewünschten Bahnen zu lenken.

Niemand plante die Selbstzerstörung Europas im Ersten Weltkrieg. Nicht einmal die auf Krieg gepolten Nationalsozialisten Hitlers dürften 1939 geahnt haben, welche Abgründe an Verderben und Verbrechen ihre Rassenideologie und ihr Einmarsch in Polen heraufbeschwören würden. Tief im Menschen, Frauen wie Männern, schlummert, lauert ein Raubtier, das dank dem Kunstwerk unserer Institutionen irgendwie halbwegs und meist erfolgreich in Schach gehalten wird. Sobald ein Krieg ausbricht, züngelt die Bestie hoch. Wir haben die Pflicht, sie in ihren Käfig zurückzutreiben.

Selbstgerechtigkeit, auch das lernen wir bei Tolstoi, ist der miserabelste Ratgeber, wenn man zurück zum Frieden will. Woran erkennt man einen, der im Krieg ist, der sein inneres Raubtier von der Kette lässt? Man erkennt ihn daran, dass er ausser seiner Meinung keine andere mehr gelten lässt, dass für ihn unumstösslich klar ist, wer die Bösen sind und wer die Guten, zu denen er sich selber zählt. Kriege treiben die Menschen buchstäblich in den Wahnsinn, denn der Krieg ist die fürchterlichste Droge. Er macht aus Freunden Feinde, zerfrisst und zerstört alles, was uns lieb sein sollte. Und am Ende stehen alle verwundert und erschüttert vor den Trümmern, die sie angerichtet haben.

Die Kriegsbestie kriecht aus ihren Höhlen, auch bei uns. Jedes Ereignis, jeden Vorfall, wie zuletzt diese undurchsichtige Meuterei der Wagner- Söldner in Russland, nehmen unsere berufsmässigen Kriegs- und Putin-Durchschauer in Politik und Medien zum Anlass, nach noch mehr Krieg und noch mehr Waffen zu trommeln. Was es heissen könnte, wenn die Macht im Kreml tatsächlich kollabiert, interessiert sie nicht. Stattdessen liefert man sich dem unheilvollen Sog des Krieges aus, unheilbar überzeugt von der Richtigkeit des eigenen Strebens wie jene von Tolstoi beschriebenen Deutschen, denen der Autor übrigens das «unwandelbarste und widerlichste Selbstbewusstsein» attestiert.

R.K.

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