Weltwoche Kommentar 26/22

Kommentar

Menschenrecht auf Abtreibung?

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igentlich wollte ich zu diesem Thema schweigen. Man kann nur verlieren. Das Recht auf Abtreibung ist ein Dogma unserer moralinverseuchten Gesellschaft. Die Meinungsmilitanz ist extrem. Man sieht es daran, dass die Versprengten und Verzweifelten, die eigentlich Mutigen, die sich noch getrauen, gegen das Abtreibungstabu das «Recht auf Leben» einzufordern, aufs übelste verleumdet, niedergeschrien und von den Behörden nicht selten an der Wahrnehmung ihres Rechts auf freie Meinungsäusserung an öffentlichen Kundgebungen gehindert werden.

Es wird behauptet, als Mann habe man zum Thema Abtreibung nichts zu sagen. Das sehe ich anders. Denn so geringfügig unser Beitrag zum Akt der Fortpflanzung auch immer sein mag, ein Quäntchen männlicher Körperflüssigkeit – das darf hier weder vergessen noch verschwiegen werden – ist nach wie vor vonnöten, um jenen rätselhaften, wundersamen Funken des Lebens in den Körper einer Frau hineinzuzaubern. Niemand bestreitet, dass die Frauen die grossartigste Schöpfung hervorbringen, die uns Menschen gegeben ist – neues Leben. Aber den Mann braucht es unbestreitbar eben auch.

Nun melde ich mich zu Wort, weil mir die irreführende und aus meiner Sicht immer schriller verfälschende Berichterstattung über das Urteil des obersten amerikanischen Gerichtshofs zum Thema Abtreibung zusehends auf die Nerven geht. Die amerikanischen Bundesrichter haben gerade nicht, wie fast überall posaunt wird, die Abtreibung verboten. Nein. Sie haben die Entscheidung darüber, ob Abtreibung verboten oder erlaubt sein soll, an die US-Gliedstaaten, an die Demokratie, ans Volk, an den mündigen Bürger zurückgegeben.

Und das ist auch richtig so.

Bevor wir uns materiell mit der Frage auseinandersetzen, ob Abtreibung gut ist oder schlecht, ist die einhellige Kritik an diesem Richterurteil durch die Medien zunächst vor allem etwas: das branchenweite Eingeständnis, dass die allermeisten deutschsprachigen Journalisten ein Problem mit der Demokratie haben. Nirgends oder fast nirgends habe ich auch nur einen Hauch von Verständnis für die Urteilsbegründung lesen können, dass es für die Richter auf die wichtige Frage, ob man ungeborenes Leben innerhalb bestimmter Fristen töten darf, keiner juristischen, sondern einer politischen Antwort bedarf.

Und diese politische Antwort, so das konsequente Argument des hohen Gerichts, muss nicht von ein paar wenigen, lebenslang eingesetzten Staatsrechtlern gegeben werden, sondern vom dafür verfassungsmässig vorgesehenen Organ, dem Souverän, dem Volk im Rahmen demokratischer Verfahren. Nichts an diesem Urteil ist geeignet, uns demokratiegewohnten Schweizern seltsam oder abwegig vorzukommen. Könnte man meinen.

Doch kein Meinungsmacher, kein Journalistenpreisträger, keine hochbezahlte Kommentatorin des öffentlichen Rundfunks in der Schweiz hat es übers Herz gebracht, das Abtreibungsurteil unter diesem, wie ich meine, äusserst lobenswerten Gesichtspunkt zu würdigen, dass die US-Richter Mehrheit über angebliche Wahrheit gestellt haben, die Demokratie über das Dogma, die Mündigkeit des Souveräns über die Weisheit der Richter. Die ablehnende bis feindselige Einfaltsmeinung der Medien lässt tief blicken. Unsere Journalisten, die meisten links, haben offenkundig, nachweislich ein riesiges Problem mit der Demokratie.

Kommen wir zur inhaltlichen Seite. Ist es ein Verbrechen, die Abtreibung zu kritisieren, hinterfragenswert, gar verwerflich zu finden? Ja, sagen die meisten Zeitungen. Am heftigsten sprang mich eine Schlagzeile im Gratisblatt 20 Minuten an: «Abtreibung ist ein Menschenrecht! » Dazu die Aufnahme einer offenbar berühmten Popsängerin, die den Bundesrichtern den ausgestreckten Mittelfinger zeigt. Das Bild sagt eigentlich alles über den brutalisierten Wahrheitsanspruch dieser Abtreibungsideologen, die sich über jede demokratische Diskussion und damit auch über den Rechtsstaat erhaben fühlen.

Zum Widerspruch allerdings reizt mich der Titel. Ist Abtreibung ein Menschenrecht? Ich habe mich beim Lesen instinktiv gefragt: Und was ist mit dem Menschenrecht des ungeborenen Menschen? Für mich ist der ungeborene Mensch, schon dieses faszinierende pulsierende Menschlein auf dem Ultraschallbild beim Frauenarzt, ein menschliches Lebewesen. Noch nicht fertig, noch nicht ausgewachsen, seiner selbst noch nicht bewusst, aber doch die schlafende, zwingende Vorstufe dessen, was ich heute bin, sozusagen die embryonale Urfassung meines Selbst, ohne die es mich nicht gäbe.

Nur darauf kommt es in dieser Debatte an: Ist man bereit, das, was im Körper einer Frau heranwächst, als menschliches Lebewesen zu bezeichnen? Wenn ja, dann ist es ein Problem, wenn wir uns ermächtigen, diesen unfertigen Menschen «abzutreiben», ehrlicher: zu töten, vielleicht deshalb, weil seine Zeugung unter fürchterlichen Umständen passierte oder weil dieser Embryo-Mensch, kommt er zur Welt, nicht in den Lebensplan der Eltern passt. Mit dem gleichen Argument übrigens könnte man jeden Menschen, der «nicht passt», beseitigen.

Nächste Frage: Ab wann ist ein Mensch ein Mensch? Und steht es uns Menschen überhaupt zu, den Zeitpunkt willkürlich festzusetzen, an dem ein Mensch zum Menschen wird?

Für mich ist etwas aus den Fugen geraten, wenn Abtreibung mit einem Ausrufezeichen zum Menschenrecht erklärt wird. Wenn wir Menschenrechte beschwören, und oft tun wir das zu Recht, dann darf damit nicht das Töten von Menschen, auch nicht ungeborenen, gerechtfertigt werden. Wer «Menschenrecht» sagt, meint damit alle Menschen: die starken, die schwachen, die jungen, die alten, die gesunden, die kranken, die dementen, die wachen, die schlafenden – und die ungeborenen, die im Mutterleib wachsen.

Es mag gute Gründe für Abtreibungen geben. Das Wort Menschenrecht sollte man dabei allerdings vermeiden.

R.K.

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