Weltwoche Kommentar 26/21

Kommentar

Schweizer Jahrhundertsommer

W

as für ein Sommer: Im Mai beerdigt der Bundesrat den institutionellen EU-Kolonialvertrag. Kurz darauf treffen sich Russlands Präsident Putin und US-Machthaber Joe Biden zum Gipfeltreffen im prächtig strahlenden Genf. Dann zerschellt das Pariser Klimaabkommen in Gestalt des CO2- Gesetzes überraschend am Hartbeton der direkten Demokratie. Und jetzt, noch verrückter, eigentlich der nackte Wahnsinn, werfen die Schweizer Fussballer Weltmeister Frankreich nach einem epischen Penalty-Thriller aus dem EM-Turnier.

Der Exploit von Bukarest erinnert an jenen unfassbaren Eishockey-Abend an den Olympischen Spielen von Lake Placid 1980, als eine amerikanische Studententruppe den als unzerstörbar geltenden Flugzeugträger des Kufensports versenkte, die Sowjetunion. Die französische Milliardencrew, die am Montag gegen die Schweiz auflief, scheiterte nach einer 3:1-Führung (!) bis kurz vor Schluss im Elfmeterschiessen an der eigenen Überheblichkeit und an einem formidablen Gegner.

Das Wunder dieses Teams war sein unbezwingbarer, geradezu unschweizerischer Siegeswille. Schweizer Sportler gelten als begabt, etwas selbstzufrieden, talentierte Verlierer, nahe dran, aber selten am Ziel, Ausnahmen wie Federer oder ein paar Skifahrer bestätigen die Regel, vor allem Weltmeister darin, den eigenen Misserfolg sprachlich gepflegt in den natürlichen Lauf des Schicksals einzubetten. Etwas schräg in der Landschaft stand zwar dieses Schweizer Fussball-Kollektiv der Hochbegabten und der Doppeladler immer, launische Wundertüte, flatterhaft, Supermacht im Konjunktiv, aber im entscheidenden Moment eben oft auch neben den Schuhen.

Diesmal war alles anders. Die Schweizer starteten stark, mutig, gingen sogar in Führung, drängten die Franzosen mit ausgefuchstem Rasenschach zurück. Nach dem frechen Führungstreffer von Seferovic hätte Rodríguez mit einem Penalty die Sache vorentscheiden können, doch dem Verteidiger versagten, typisch schweizerisch, obwohl er ursprünglich Spanier ist, ein Fall von Überanpassung, die Nerven. Die vertane Chance wurde zum Knockout- Schlag ans eigene Kinn. Die Schweizer schwankten, taumelten, schmolzen dahin, die Franzosen trumpften auf. Innert weniger Minuten hiess es 2:1, dann zirkelte Pogba den Ball mit dem Zauberstab ins Lattenkreuz zum 3:1 und tanzte. Der Match schien gelaufen.

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enerationen von Sportpsychologen werden erforschen, was dann geschah. Vielleicht war es Pogbas Hüftschwung, der den Niedergang auslöste, ein Hauch von napoleonischer Hybris umwehte plötzlich dieses technisch überbegabte Filigran-Ensemble. Gleichzeitig krallten sich die Schweizer auf den Fingernägeln in die Partie zurück, Grashalm für Grashalm, Zentimeter für Zentimeter, ungeahnte Kraftreserven hebend, jeder für jeden, alle miteinander, und plötzlich zündete der innere Lamborghini wieder. Unter dem sensationellen Regisseur Granit «Ihr könnt mich mal» Xhaka schafften die brandgefährliche Luftwaffe Seferovic und Offside-Spezialist Gavranovic den Ausgleich buchstäblich in letzter Minute, Triumph des Testosterons über die Spielkunst der Franzosen.

Bis zum letzten Montag waren die Schweizer inoffizieller Weltmarktführer im Verlieren von Penaltyschiessen. An der WM 2006 in Deutschland verfehlten sie im Achtelfinal gegen eine schwache Ukraine niederschmetternde drei Mal. Dass es jetzt gegen den Weltmeister zum makellosen Erfolg reichte, Stahlnerven bis zur letzten Sekunde, wirft die Frage auf, was Coach Vladimir Petkovic, eher Melancholiker als Charismatiker, offenbar Meisterpsychologe, im Seelengetriebe seiner Mannschaft änderte. Wir wissen es nicht, aber es muss etwas mit den mysteriösen balkanischen Herkunftsenergien der Spieler und ihres Trainers zu tun haben. Es ist mir bewusst, dass man mit solchen Formulierungen heute im Gefängnis landen kann, aber im Wettkampf des Lebens bedeutet die charakterliche Ursprungsprägung viel.

D

er Abend von Bukarest machte es deutlich: In diesem Team schlummern Kräfte, die durch herkömmliche Stimulanzien wie das gemeinsame Absingen einer Nationalhymne nicht entfesselt werden. Diese Spieler reagieren auf andere Antriebe, zum Beispiel auf Kritik, die sie durch ihre Extravaganzen selber heraufbeschwören. Aber eines ist sicher: Mit seinem Teufelsritt gegen Frankreich hat sich dieser oft kritisierte multikulturelle Zweckverbund, Schwerpunkt Ex-Jugoslawien, am Montag unwiderruflich einen Platz in den Herzen unserer Nation und in der Ruhmeshalle unseres Sports erobert. Fast scheint es, als hätten sich Xhaka, Akanji und Co. absichtlich ins Abseits frisieren lassen, um dann, mit kanariengelben Haaren, die negativen Medienschwingungen umzulenken in eine schöpferische Trotzreaktion.

Die Schweiz findet zu sich selbst zurück. In der Europapolitik. Als Bühne internationaler Spitzentreffen auf neutralem Boden. Im urdemokratischen Kampf gegen die grünen Klima-Zumutungen. Die Schweiz ist eben anders. Nicht das Blut und die Gene machen es aus. Es sind die Institutionen der Freiheit und die gemeinsamen Erfahrungen und Erfolge. Die Schweiz ist zugleich das nationalste und das internationalste Land der Welt. Seit letztem Montag ist sie auch, für den Moment, eine Grossmacht auf dem Fussballrasen.

Es kann kein Zufall sein: Die sklerotischen EU-Staaten Frankreich und Deutschland sind an der EM draussen. Die Brexit-Engländer und die schwererziehbaren Schweizer sind weiter. Europa blüht, auch und gerade ausserhalb der Europäischen Union.

R.K.

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