Weltwoche Kommentar 25/23

Kommentar

Frischluft fürs Hirn!

Wenn ich mit einem Problem konfrontiert werde,
schaue ich es mir von verschiedenen Seiten an.

Dalai Lama
K

ürzlich sass ich auf der Dachterrasse unseres Verlagshauses am Zürichsee mit einem befreundeten Ökonomen, Professor an einer bekannten Schweizer Universität. Er riet mir, das redaktionelle Konzept der Weltwoche besser zu erläutern. Hintergrund sei der Krieg in der Ukraine, der uns den Ruf eingebracht habe, den Einmarsch der Russen zu rechtfertigen und Russlands Präsidenten Putin allzu pfleglich zu behandeln. Gerne nehme ich den Vorschlag auf.

Tatsächlich kontert die Weltwoche immer wieder gängige und landläufige Vorstellungen, auch zu diesem Krieg. Wir haben im letzten und in diesem Jahr so ziemlich jede Meinung publiziert, die man zum Ukraine-Konflikt rationalerweise haben kann. Blicke ich zurück, würde ich sagen, die Zahl der Texte, die auch Russlands Sicht ernst nehmen, dürfte leicht grösser gewesen sein als die Anzahl jener Artikel, die sich mit der Sicht des Mainstreams decken.

Sind wir deshalb Putin-hörig? Haben wir ein unheimliches Flair für Despoten? Ist uns der moralische Kompass abhandengekommen? Was steckt hinter dem redaktionellen Kurs unserer Zeitung, der offenbar zu reden gibt?

Zuerst: Die Weltwoche kennt in ihrer Berichterstattung keine politische Einheitslinie. Wir setzen nicht auf eine bestimmte Sicht. Ausschlaggebend ist das freie Denken. Viele unserer Autoren vertreten prononcierte Standpunkte, auch ich. Nur wer nichts sagt, kommt überall gut an. Diesem Grundsatz folgt die Weltwoche nicht. Wir lassen die unterschiedlichsten Meinungen zu, alle widersprechen allen. Es gibt keine heiligen Kühe, keinen Einheitsbrei, dafür hoffentlich interessante Vielfalt.

Die Weltwoche steht weder links noch rechts, aber eben auch nicht nur links. Als ich hier angefangen habe, hatten die Linken das Kommando. Das musste durchlüftet werden. Seit demnächst neunzig Jahren nimmt sich die Weltwoche die Freiheit, Gegensteuer zu geben. Dieser offene, «agnostische» Ansatz, der nicht vorgibt zu wissen, wo Gott hockt, unterscheidet uns von den anderen. Mir gefällt das Motto von «Raumschiff Enterprise»: Unterwegs in Galaxien, wo noch keiner zuvor gewesen ist.

Die Weltwoche ist ein Angebot an ihre Leser, sich auf den Prozess des freien Denkens einzulassen.

Das heisst nicht, dass die Weltwoche stets alle Standpunkte, die man zu einem Thema haben kann, abbilden muss. Meistens arbeiten wir uns an anderen Meinungen ab, mit Vorliebe an den tonangebenden, alles überdröhnenden «Narrativen », die viele Medien mit der Wahrheit verwechseln. Freiheit heisst Widerspruch. Die Weltwoche stellt sich gegen die Absicht, bestimmte Meinungen oder Personen unter Denkmalschutz zu stellen. Oder zu verteufeln. Es gibt immer eine andere Sicht.

Stimmt es, was unsere Regierungen behaupten? Liegen wir mit unseren Werturteilen richtig? Könnte es nicht auch ganz anders sein? Diese Fragen treiben die Weltwoche an. Sie ist spezialisiert darauf, auch jenen Meinungen Gehör zu schenken, die als falsch, als abwegig oder als verwerflich gelten. Übernehmen wir damit automatisch diese Meinungen? Quatsch. Wir wollen nicht recht haben. Wir wollen Diskussionen in Gang bringen, die besseren Argumente aufdecken, Irrtümer entlarven.

Die Weltwoche ist für mich so etwas wie der letzte journalistische Pflichtverteidiger. Steht einer am Pranger, holen wir ihn ans Mikrofon. Wir reden auch mit denen, mit denen niemand mehr redet. Wenn ich in Moskau einer vom Haager Kriegsverbrechertribunal beschuldigten russischen Politikerin die Möglichkeit gebe, erstmals ihre Sicht der Dinge darzulegen, ist das für meine Kritiker ein Skandal. Für mich ist es eine journalistische Selbstverständlichkeit: Audiatur et altera pars.

Im Zweifel für den Angeklagten: Die Weltwoche, das ist der Advocatus Diaboli, der Teufelsadvokat, der Gewissheiten aufmischt und den Gottesdienst stört. Wo alle loben, muss man kritisieren. Wo alle kritisieren, muss man loben. Erinnern Sie sich noch an Doris Leuthard? Als Bundesrätin stand sie in der Gunst der Journalisten ganz weit oben, ausser bei der Weltwoche. Inzwischen ist die einst Angebetete entzaubert. Es wird langsam Zeit für eine Würdigung bei uns.

Als die deutsche Regierungschefin Angela Merkel mit ihrer Flüchtlingspolitik auf immer heftigere Kritik stiess, hob ich sie aufs Titelbild der Weltwoche mit der Schlagzeile: «Frau des Jahres». Der Artikel war der Versuch, sich in die Kanzlerin hineinzuversetzen, ihren Motiven auf den Grund zu gehen und ihre Entscheidungen im Licht der deutschen Geschichte aufzuhellen. Persönlich fand ich ihre Willkommenspolitik falsch, das aber war nicht das Thema meines Kommentars.

Journalisten sollten sich von der Vorstellung verabschieden, ihre persönliche Meinung stehe über allem. Ich sehe den Journalisten eher als Abenteurer, als Anwalt – oder als Schauspieler, der die grossartige Freiheit hat, sich in fremde Lebensentwürfe einzufühlen, auch Standpunkte zu ergründen, die seinem eigenen widersprechen. Man sollte sich frei machen vom Ballast des Moralismus, vom eitlen Drang, gut dazustehen. Stattdessen: Rein in die wunderbare, verstörende Fülle des Lebens!

Je weniger die Journalisten an sich selber denken, desto besser wird die Zeitung. Wir sind Dienstleister der Vielfalt. Wir stellen sicher, dass die Diskussionen nicht versteinern, nicht zu einseitig verlaufen. Demokratien leben davon. Die Leute brauchen vielfältige Informationen und Positionen, um bessere Entscheidungen zu treffen. Oft vertrete ich die Gegenmeinung, damit wenigstens einer noch die Gegenmeinung vertritt. Nichts ist gefährlicher, als wenn alle in die gleiche Richtung rennen.

Deshalb nein: Die Weltwoche ist weder für noch gegen Putin. Sie hat kein Flair für Diktatoren. Philosophisch orientiert sie sich an der guten alten Schweiz, dem Wunderland der Vielfalt und der Freiheit. Alle reden mit allen über alles. Keiner soll meinen, er sei etwas Besseres als der andere. Und niemand hat die Wahrheit oder den lieben Gott exklusiv auf seiner Seite. Die Weltwoche ist ein Angebot an ihre Leser, sich auf den Prozess des freien Denkens einzulassen: Rede und Gegenrede.

Frischluft fürs Hirn!

R.K.

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