Weltwoche Kommentar 25/21

Kommentar

Weltwunder Deutschland

M

eine Grossmutter war Deutsche. Meine Mutter kam in Königsberg zur Welt. Meine Kindheit war geprägt von den Erzählungen des Grossvaters, Auslandschweizer, Berufsfeuerwehr in Ostpreussen. Der Wahnsinn des Weltkriegs war das Thema meiner Kindheit, Nazi-Pest, Bombardierungen, Tote, Flucht und Verlust von allem, was man hatte. Am Fernseher verfolgten wir deutsche Politik. Die Helden meiner Grosseltern waren Willy Brandt und Herbert Wehner. Als sich Helmut Kohl 1982 dank einer Pirouette der FDP die Macht einverleibte, herrschte Staatstrauer in unserer Familie.

Deutschland war immer interessanter, spannender, unendlich aufwühlender und tragischer als die Schweiz, diese langweilige Glücksoase des Wohlstands, die von der Geschichte so wundersam verschont schien. Verstehen Sie mich richtig: Langeweile ist die wichtigste Qualität, die Politik aus Sicht ihrer Bürger haben kann. Man sollte Friedensnobelpreise an die grössten Langweiler der Politik vergeben, am besten an Staatsmänner, von denen man noch gar nie etwas gehört oder gelesen hat, was immer ein gutes Zeichen ist.

An Deutschland faszinierte mich, als Nachgeborener, als Aussenstehender, als Wohlstandszögling im Freiluftmuseum Schweiz – darf man das überhaupt sagen –, die surreale, total unschweizerische Intensität seiner Geschichte, ein realer Hollywoodfilm, gleichzeitig Heldenepos und Horrorthriller, die Erzählung von Grösse und Absturz, von Genie und Wahn, von unglaublichen Leistungen und namenloser Niedertracht, ein Realdrama, so unwirklich, wie nur die Wirklichkeit sein kann, monströser als jeder Roman, aufgeführt von diesen unglaublichen, unzerstörbaren Deutschen, die darüber hinaus das Kunststück fertigbrachten, ihren eigenen Untergang nicht nur zu überleben, sondern ihm eine eigene, ganz neue Erfolgsgeschichte abzuringen.

Diese Gefühle prägen noch heute meinen Blick auf die Bundesrepublik, diesen tief vernarbten Staat an einer der Hauptachsen des Weltgeschehens. Ich sehe natürlich, was man an Deutschland heute alles kritisieren und schlecht finden kann, aber am Ende überwiegt bei mir doch die Bewunderung, der Respekt dafür, wie diese Deutschen, vor erst 76 Jahren besiegt, besetzt und verfemt, auf einem rauchenden Trümmerhaufen innerhalb von wenigen Jahrzehnten ein achtes Weltwunder der Wirtschaft, der Tüchtigkeit und des friedlichen Wiederaufstiegs hingelegt und, fast nebenbei, noch eine Wiedervereinigung gestemmt haben, rehabilitiert inzwischen dank dem von ihnen ebenfalls aufgebauten und bis heute europaweit ohne Rücksicht auf Verluste durchfinanzierten Ersatzvaterland EU.

Erwarten Sie also jetzt keine Brandreden und Abgesänge auf amtierende Politiker oder Kanzlerinnen. Ich werde auch nicht einstimmen in den kulturpessimistischen Evergreen, die Deutschen seien alle obrigkeitshörig, ewige Untertanen, nur allzu willig, sich unter das Joch des herrschenden Zeitgeists zu beugen. Ich erlebe es ganz anders. Die Deutschen sind den Schweizern recht ähnlich, effizient, tüchtig, sachlich, weltoffen, regierungskritisch, dem Zentralismus abgeneigt, heimatverbunden, «Kantönligeist », gemünzt aufs Bundesland, tendenziell unromantisch, dafür rechnerisch, realitätsbezogen, obschon ihnen ihre Intellektuellen, grosse Romantiker, immer wieder das Gegenteil einzureden versuchen. Die Deutschen haben einen ausgeprägten Freiheits- und einen noch ausgeprägteren Ordnungswillen. Es wird behauptet, die Deutschen seien ein Volk von Dichtern und Denkern. Mag sein. Vor allem sind sie ein Volk der Ingenieure und der Chemiker.

Ich gebe zu: Das grösste Problem der Deutschen sind ihre Medien. Eigentlich müssten die Journalisten Fiebermesser des Volkes sein, Blickrichtung von unten nach oben. Die meisten machen das Umgekehrte: Sie lautsprechern von oben nach unten, regierungsergeben, überheblich, besserwisserisch, die Deutschen zum Guten erziehen wollend, indem sie ihnen täglich das immergleiche Korsett an vorgekauten, erwünschten, erlaubten Meinungen überstülpen. Aus diesem Gedankengefängnis darf es kein Entrinnen geben, doch die ungnädige Gereiztheit der Gesinnungsschaffenden ist kein Zeichen von Stärke, sondern ein Stresssymptom. Die Mächtigen und Etablierten haben gemerkt, dass ihnen die Felle davonschwimmen. Der Ton wird rauer. Die Toleranz nimmt ab. Viele scheinen darunter zu leiden. Haben die Deutschen nach all den Jahren unter der Konsens-Käseglocke grosser Koalitionen vergessen, wie sich eine lebendige Demokratie anfühlt?

Zum Schluss eine Anregung, der einzige Rat des Schweizers. Inspiriert euch an der Eidgenossenschaft. Auch die Schweiz war einst eine militärische Grossmacht in Europa. Sie erlebte ihren Untergang, die totale Niederlage 1515 bei Marignano. Von da an hörten die «Svizzeri» auf, in der Politik gross aufzutrumpfen. Sie wurden bescheiden, verlegten sich auf die Wirtschaft, das Bankwesen, die Industrie, wirkten nach innen, hervorragende Schulen, Freiheit und Eigenverantwortung, niedrige Steuern. Neutral hielt man Abstand zu den Grossmächten, den Raubtieren unter den Staaten. Aus dem Armenhaus in den Alpen wurde eine Oase des Friedens und der Wohlfahrt.

Deutschland, eine Art Magna Helvetia. Warum nicht? Kein anderes Land wäre besser geeignet, dem Beispiel Schweiz zu folgen: Land der Freiheit und Selbstverantwortung, erfolgreich, sparsam, fleissig, herausragende Bildungsstätten, ein Staat, der sich zurücknimmt, freundlich nach allen Seiten, Understatement, das natürliche Bindeglied zwischen Ost und West. Ihre Geografie macht die Deutschen zu geborenen Spezialisten der Völkerverständigung. Wir Schweizer reden aus Erfahrung: Nichts ist befreiender als der Abschied vom Zwang, in der Politik etwas Bedeutendes sein zu wollen.

R.K.

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