Weltwoche Kommentar 24/24

Kommentar

Kiew kapert den Bürgenstock

A

n einer Medienkonferenz des Bundesrates zur Bürgenstock-Konferenz vom nächsten Wochenende erklärte Aussenminister Ignazio Cassis auf eine Journalistenfrage, er habe die russische Seite nicht zum Gipfeltreffen eingeladen, weil dies «nicht kompatibel» gewesen sei mit der Position des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj; nachzuhören ab Minute 48 auf dem offiziellen Video.

Kurzum: Kiew diktiert die schweizerische Aussenpolitik. Nicht die Schweizer Landesregierung, sondern offenkundig der Staatschef einer kriegführenden Macht gibt unserem Bundesrat die Anweisung, wer an die von der Schweiz ausgerichtete Friedenskonferenz kommen darf und wer nicht. Cassis scheint darin kein Problem zu sehen. Andernfalls hätte er es vor den Medien nicht einfach ausgeplaudert.

Das Eingeständnis des Tessiners ist eine Peinlichkeit und vermutlich auch von erheblichem Nachteil für die Schweiz. Denn alle, die weltweit ohnehin ihre Zweifel bekommen mussten an der schweizerischen Neutralität und der Unabhängigkeit unseres Landes, können sich nun gleichsam hochoffiziell, geradezu amtlich bestätigt sehen. Der Aussenminister ist seinem Amt augenscheinlich nicht gewachsen.

Die im Medienzentrum anwesenden Journalisten realisierten wohl nicht auf Anhieb, was der Bundesrat da soeben verlautbart hatte. Doch aus den Fragen war ein wachsendes Unbehagen herauszuspüren. Mittlerweile dürften auch die grossen Zeitungshäuser dahinterkommen, dass diese Konferenz der Einseitigkeit eine unglückselige Übung zu werden droht, eine Art Marignano der schweizerischen Aussenpolitik.

«Marignano»: Der Name steht für jene fürchterliche Niederlage der eidgenössischen Landsknechte vor den Toren Mailands 1515. Es war das Ende der schweizerischen Militärgrossmacht in Europa und der embryonale Beginn der schweizerischen Neutralitätspolitik. Auf dem Bürgenstock könnte die für unser Land so wichtige Friedens- und Sicherheitstradition zeremoniell zu Grabe getragen werden.

Die Verantwortung dafür trägt Aussenminister Ignazio Cassis, aber auch Bundespräsidentin Viola Amherd, zuständig für Verteidigung und Sport. Der Tessiner Freisinnige hat sich im Ukraine- Krieg von Beginn weg verhaspelt. Allen Seiten wollte er es irgendwie recht machen, doch er landete, ohne es zu merken, am Rockzipfel einer auswärtigen Macht, der Ukraine, die die Schweiz in diesem Krieg ausnützt und für ihre Zwecke missbraucht.

Dass Cassis nun also auf Anweisung, auf Geheiss, oder sollen wir sagen: auf Befehl von Selenskyj, auf eine Einladung der Russen verzichtete, ist der vorläufige Tiefpunkt seiner verwirrten Aussenpolitik, die der Schweiz nicht nur einen Imageschaden zufügt, das ginge ja noch. Viel gefährlicher ist, dass Cassis die Schweiz an der Seite Kiews immer tiefer in diesen Krieg hineinreitet – als Feind der Nukleargrossmacht Russland.

Der taumelnde Irrlauf des Tessiners wirft die Frage nach der Tauglichkeit unserer Landesregierung in Kriegszeiten auf. Wo eigentlich waren in diesem Debakel die beiden SVPBundesräte Parmelin und Rösti? Die SVP gibt sich gerne als erdbebensichere Bastion der Neutralität. Offenkundig haben die beiden SVPler im Bundesrat ihren Kollegen machen lassen. Fehlte es an Überzeugung, an Führungsstärke? An beidem?

Europa steht, achtzig Jahre nach dem D-Day, wieder einmal an einer Abbruchkante. Regelrecht betrunken von Illusionen der eigenen Vortrefflichkeit, unfähig, unwillig, die eigenen Fehler im Vorfeld der Ukraine-Katastrophe wahrzunehmen, gibt man sich Fantasien hin, grossräumigen Planspielen zur «Besiegung» und «strategischen Schwächung» Russlands. Und mittendrin die Schweizerische Eidgenossenschaft.

Schlafwandler, Verblendete des Kriegs: Alle relevanten Parteien des Landes wirken wie Gefangene der westlichen Propaganda. Der Mut, die Kraft und das Rückgrat zur Aufrechterhaltung der Neutralität fehlen – auch bei jenen, die salbungsvoll die Neutralität besingen. Sollte die SVP mit alldem nicht einverstanden sein, für einmal scheint sie ihren Protest im Flüsterton anzubringen. Man merkt schlicht nichts davon.

Allmählich scheint die Hirnwäsche der Medien und der Mainstream-Parteien zu verfangen. Die Neutralität hat einen schlechten Beigeschmack bekommen. Sie wird, gerade auch in SVP-Kreisen, als unstatthafte Stellungnahme für den «Aggressor », für den «Bösen» empfunden. Die Partei hat hier die argumentative Lufthoheit komplett den Gegnern überlassen. Hält wenigstens das Volk noch an ihr fest?

Der Neutrale steht eben auf keiner Seite, ausser auf der schweizerischen. Er ist weder für die eine Seite noch für die andere. Der Neutrale ergreift gerade keine Partei und spielt auch nicht den Schiedsrichter. Er hält sich raus. Diskret bietet er diplomatische Hilfe an. Deshalb macht er sich bei allen unbeliebt. Früher hatten Schweizer Politiker die Kraft, die Neutralität notfalls mit der Waffe in der Hand zu schützen. Das scheint vorbei. Tempi passati.

Die Neutralität ist das völkerrechtliche Siegel der schweizerischen Unabhängigkeit. Neutralitätsfragen sind Souveränitätsfragen. Die Schweiz, heisst es, sei eine Willensnation. Die Schweiz ist nichts Selbstverständliches. Sie muss gewollt und bei Bedarf verteidigt werden. Ohne diesen Willen zur Unabhängigkeit, zur Souveränität gibt es keine Schweiz. Wackelt die Neutralität, wackelt die Schweiz.

Unabhängigkeit heisst, dass man nicht auf Befehl des Auslands handelt. Nichts anderes aber macht seit zwei Jahren die Schweiz, auch und gerade in Sachen Ukraine. Der Bundesrat übernahm ungeprüft die Russland-Sanktionen der EU. Mittlerweile liefern wir über Umwege Waffen an Selenskyj. Dem ukrainischen Präsidenten rollen sie im Bundeshaus den roten Teppich aus. Nun diktiert Kiew auch den Bürgenstock.

Ist die Schweiz noch ein souveräner Staat? Als Nächstes verhandelt der Bundesrat, wie bezeichnend, die Anbindung, sprich: Unterwerfung der Schweiz unter EU-Recht, EURichter und EU-Sanktionen. Vermutlich wird Aussenminister Cassis auch dann vor die Medien treten und den Journalisten mit gutherziger Miene erklären, wie er sich aus Brüssel die Agenda kommandieren lässt.

Schweiz, ja oder nein? Nicht nur die Kapriolen des Aussenministers, auch die Nato-Anwandlungen der Bundespräsidentin untergraben unsere Unabhängigkeit. Sollen im Notfall künftig auswärtige Generalstäbe entscheiden, ob, wie und durch wen die Schweiz verteidigt werden soll? In dramatischem Tempo gibt sich die Schweiz hier preis, präziser: verschrotten Politiker die bewährten Säulen unseres Staates. Cassis’ Marignano heisst Bürgenstock.

R.K.

Cover: Oliver Bunic/Bloomberg/Getty Images

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