Weltwoche Kommentar 24/22

Kommentar

Ukraine-Flüchtlinge: Missstände beheben

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ald 60 000 Flüchtlinge und Kriegsvertriebene aus der Ukraine sind derzeit in der Schweiz. Das Bundesamt für Migration rechnet mit 120 000 Ukrainern bis September. Insgesamt sollen rund 6,5 Millionen Ukrainer ihr Land verlassen haben. Die Schweiz gewährt ihnen allen die volle Personenfreizügigkeit. Mehr noch: Im Unterschied zu den EU-Bewohnern dürfen Ukrainer in die Schweiz kommen, auch wenn sie keinen Arbeitsvertrag besitzen.

Die ukrainischen Flüchtlinge stossen auf einen Ozean lächelnder Willkommenskultur. Der Bund ist grosszügig. Die Leute wollen helfen. Tausende von Schweizer Familien haben sich bereit erklärt, Flüchtende aus der Ukraine aufzunehmen. Die Hilfsbereitschaft wird befeuert durch die allgemeine moralische Empörung über den russischen Aggressor. Politiker rühren die Solidaritätstrommel und missachten die Neutralität. Die Ukrainer werden gegenüber anderen Asylsuchenden bevorzugt.

Ich rede mit Martina Bircher, SVP-Migrationsspezialistin, Mitglied des Nationalrats und ehemalige Gemeinderätin im wunderschönen Städtchen Aarburg. Dort machte sich Bircher als tatsachenkundige, unideologische Reformerin des Asyl- und Migrationswesens einen Namen über die Kantonsgrenzen hinaus. Im Bundeshaus behelligt sie die zuständigen Behörden mit brenzligen Fragen. Inzwischen ist sie ein wandelndes Lexikon an Fakten zu Asyl und Migration.

Bircher beobachtet in ihrer Wohngemeinde, dass rund 10 Prozent der Ukraine-Flüchtlinge mit Schutzstatus S gar nicht aus der Ukraine stammen, sondern aus Pakistan, dem Iran oder der Türkei. Es seien ausnahmslos junge Männer. Sie würden zwar über ausgedruckte Formulare verfügen, die sie in ukrainischen Ortschaften beheimaten, aber amtlich und auf ihre Echtheit überprüfbar seien die Unterlagen nicht. Bircher sagt: «Wir wissen nicht, ob sie wirklich in der Ukraine gelebt haben.»

Die ehemalige Lokalpolitikerin beobachtet Migrationsströme aus der Ukraine direkt ins Schweizer Gesundheitswesen. Mit Schutzstatus S, der fast unbesehen verliehen werde, könne ein angeblich aus der Ukraine Geflüchteter sich gratis die Organe, auch die Zähne sanieren lassen. Ein «kaufähiges Gebiss» gehört gemäss Schweizer Recht zum Existenzminimum. Bei ärztlichen Behandlungen entfällt der Selbstbehalt. Der Status S garantiert Vollzugang zur staatlichen Schweizer Medizin zum Nulltarif.

Vermehrt seien Fälle zu beobachten, erzählt Bircher, dass Kranke aus der Ukraine in die Schweiz gebracht würden, weil sie hier teuerste Therapien bekämen, die es zu Hause gar nicht gebe. Flüchtlinge mit Schutzstatus S haben Anspruch auf den vollen medizinischen Leistungskatalog, ohne je einen Franken in die Krankenkassen einbezahlt zu haben. Das Angebot schafft sich die Nachfrage. Kriegsflucht und Wohlstandsmigration vermischen sich. Wo endet das eine? Wo beginnt das andere?

Ein sechzigjähriger Ukrainer, der vor drei Wochen in die Schweiz gekommen ist, kann ab sofort AHV beziehen.

Dass etwas nicht mehr stimmt, merken inzwischen auch die Medien. Die Sonntagszeitung aus dem Hause Tamedia berichtete ausführlich über Missstände im Kanton Bern. Immer mehr Gastgeberfamilien geben die Ukraine- Flüchtlinge an die Behörden zurück. Man beklagt sich über «Unverträglichkeiten», überzogene Ansprüche («Schnäderfrässigkeit») und zu wenig Dankbarkeit. Schon gibt es Online- Sorgenplattformen, in denen sich frustrierte Flüchtlingshelfer austauschen.

Diese Woche musste Justizministerin Karin Keller-Sutter kritische Fragen des Parlaments beantworten. Zu reden gab vor allem eine Zahlenreihe. Insgesamt 1,5 Millionen Ukrainer sind bis jetzt nach Rumänien und Moldawien geflüchtet. In den beiden Ländern werden heute aber nur noch je 100 000 Ukrainer gezählt. Wo sind die restlichen 1,3 Millionen hin? Bundesrätin Keller-Sutter musste zugeben, dass viele aus wirtschaftlichen Gründen in andere westliche Länder weitergezogen seien.

Die Migration aus der Ukraine wächst sich zum Fass ohne Boden aus. Grund ist der Krieg, aber längst nicht nur. Weite Teile der Ukraine sind gar kein Kriegsgebiet. Doch der westeuropäische Sozialstaat ist ein Menschenmagnet, und die Kühlschranktüren sind sperrangelweit offen. Längst benutzen nicht nur unmittelbar vom Krieg bedrohte Ukrainer die grosszügigen Angebote, sondern alle Ukrainer, von wo aus auch immer sie in die Schweiz gelangen.

Ein «krasses Problem» sei der Familiennachzug, sagt Martina Bircher. Dank dem Schutzstatus S darf ein Ukrainer, der in der Schweiz lebt, seine internationale Verwandtschaft hierherholen, also zum Beispiel den in den USA studierenden Sohn oder Neffen, die Tante aus Portugal und andere Verwandte, deren Migrationsgründe vielfältig sein können, aber mit Sicherheit und Kriegsflucht rein gar nichts mehr zu tun haben.

Schliesslich ist der Schutzstatus S ein Freibrief in die AHV. Ein sechzigjähriger Ukrainer, der vor drei Wochen in die Schweiz gekommen ist, kann ab sofort AHV beziehen. Der Schweizer Steuerzahler zahlt ihm laut Bircher fünf Jahre rückwirkend die AHV-Beiträge ein. Für Frauen gilt das Bezugsrecht ab 59 Jahren. Ob Ergänzungsleistungen (EL) dazukommen, ist in Abklärung. Staatenlose müssen für EL zehn Jahre in der Schweiz sein. Bei Ukrainern könnte es ab dem ersten Tag erlaubt werden.

Zu Beginn des Kriegs regierte in der Schweiz das Herz. Jetzt muss wieder der Verstand einkehren. Bei den Ukrainern zeichnet sich ein Asylchaos ab. Falsche Anreize schaffen falsche Zuwanderung. Rückführungskonzepte existieren nicht. Die Schweizer Politik hat sich mit Solidaritätsparolen unter Druck gesetzt, Moral vor Recht auch hier. Jetzt muss man die Missstände aussprechen und beheben. Das ist im Interesse aller, denen die grosse Schweizer Asyltradition am Herzen liegt.

R.K.

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