Nemo und Neutralität
er Siegerauftritt des Schweizer Performers «Nemo» – Niemand – am Eurovision Song Contest in Malmö löst allenthalben Freude und Bewunderung aus. Recht so. Zuschauer, Fans, selbst gestandene Musikerkollegen zollen Respekt. Der Song sei ein Wurf, die Inszenierung genial, ein neuer Star habe da die Weltbühne betreten. Bravo.
Doch in die Begeisterung mischt sich Melancholie. Europa, dieser Kontinent von Mozart, Beethoven, Beatles und Abba, ist in seiner musikalischen Aktualitätsausprägung, wie wir sie in Schweden erlebt haben, nur noch ein trauriger Abklatsch seiner selbst. Eurovision – Sinnbild von Niedergang und Dekadenz?
Spätestens seit Guildo Horn ist der europäische Gesangswettbewerb zum Zirkus frivoler Eitelkeiten, zum Freiluftlabor exzentrischer Minderheiten geworden. Die sexuelle Orientierung scheint inzwischen wichtiger als der musikalische Aspekt. Bis vor kurzem konnte es nicht schwul genug sein. Heute sind «Trans» und «Gender» der letzte Schrei.
Ich weiss, solche Diagnosen wirken etwas unzeitgemäss. Doch wir lesen, auch Nemo habe sein «drittes Geschlecht» erst im letzten November so richtig entdeckt, gerade noch rechtzeitig. Dass einer einfach ein brillanter Musiker ist, reicht anscheinend nicht mehr. Auf die richtige «Botschaft», auf die «Haltung» kommt es an.
Bin ich der Einzige, dem die ideologische Dauerbedröhnung auf die Nerven geht? Man kann heute an keinen Fussballmatch mehr gehen, in kein Kino oder ans Konzert, ohne erzieherisch behelligt zu werden. Der Moralismus unserer Zeit, dieser klebrige Gesinnungsschlick, drückt wie Giftbrühe aus allen Poren.
Ja, auch ich bin gegen Rassismus, Krieg und Diktatur, für die Gleichberechtigung aller Geschlechter, für Umweltschutz, saubere Luft, Frieden und Freiheit. Aber muss ich deswegen permanent ermahnt und moralisch belästigt werden? In mir steigt, immer drängender, ein Bedürfnis, ja eine Sehnsucht nach politikfreien Zonen auf.
Alles fliesst. Selbst die biologischen Unterschiede sind keine festen Tatsachen, keine Grenzen mehr. Der Mensch ist sein eigener Schöpfer, und wenn ich als Mann mich heute als Frau fühle, dann kann ich das auf jeder schweizerischen Einwohnerkontrolle für einen Betrag von, wie ich lese, siebzig Franken amtlich beglaubigen lassen.
Das Misch- und Wechselwesen Nemo hat «den Code» geknackt. Sein Song ist die progressive Freiheitshymne einer allgemeinen Auflösung, in der nichts mehr gilt und alles zur freien Verfügung steht. Nicht nur Traditionen und Geschlechter, auch politische Institutionen, für stabil gehaltene «Identitäten» zerströmen im Säurebad der Gegenwart.
Seit dem Einmarsch der Russen in die Ukraine beschwören Politiker und Medien leicht verzweifelt «den Westen», diese sagenhafte Wertebastion, das Bollwerk, das den Kern dessen, was wir sind und was wir sein wollen, ausmachen soll. Dieser Westen, heisst es, sei bedroht – durch Putin, durch China, durch gegen Israel demonstrierende Studenten.
In jedem von uns steckt ein kleiner Nemo, der darauf wartet, aus dem Gefängnis seines Ichs auszubrechen.
Was aber ist denn dieser Westen überhaupt, frage ich mich. Ist es Nemo? Der Eurovision Song Contest? Die Preisgabe der schweizerischen Neutralität im Krieg gegen Russland? Die Europäische Union? Früher war der Westen, war Europa ein Synonym für das Christentum. Doch gerade davon wollen die neuen Herolde am wenigsten wissen.
Die Welt tobt. Manche finden, sie spinnt. «Der Westen» macht einen besonders fiebrigen Eindruck. Am stärksten wütet die Identitätskrise in Deutschland. USA, Euro, Europa, Fussball, Grundgesetz und Autoindustrie: Nichts hält mehr, alles bröckelt. Je unsicherer der Boden, desto hysterischer die Stimmung.
Jetzt wären die Konservativen gefragt, die echten, nicht die falschen. Ich glaube, ihr Comeback steht bevor. Wir haben zu viel Nervenzusammenbruch im Leben, in der Politik. Es braucht Beruhiger, Abwiegler, Therapeuten, Leute, die das Rad nicht laufend neu erfinden wollen, sondern das Bewährte pflegen – mit Zuversicht und, ja, Gottvertrauen.
Die Grösse des Menschen ist seine Fähigkeit, über sich hinauszusteigen. In jedem von uns steckt ein kleiner Nemo, der darauf wartet, aus dem Gefängnis seiner Herkunft, seiner Biologie, seines Ichs in die Freiheit auszubrechen. Menschen sind Rollenkünstler und Trapezartisten. Sie klettern hoch. Irgendwann stürzen sie ab.
Warum schlagen die Identitätsstörungen in der Schweiz weniger durch als anderswo? Weil bei uns Politiker und Medien weniger zu bestimmen haben. Das Volk ist bodenständiger als die Elite. Der Zeitgeist mit seinen Flausen bezirzt, bezaubert vor allem Leute, die ihr Geld mit Reden und Schreiben verdienen.
Solange in der Schweiz die Bürger das Sagen haben, solange wir selber entscheiden und uns neutral zurückhalten, uns nach gutschweizerischer Art nicht in die Kriege und Verrücktheiten der anderen hineinziehen lassen, bleibt unser Land eine Oase relativer Vernunft in einem Ozean des periodischen Wahnsinns.
Doch selbst bei uns brodeln Kulturkämpfe, schwingen sich die «Progressiven» auf, in allen Parteien, denen die Schweiz mit ihrer Unabhängigkeit, mit ihrer Neutralität nicht mehr genügt. Sie fordern mehr Nato, mehr EU – was sie mit Weltoffenheit verwechseln. Es sind immer die gleichen Irrtümer, die in neuen Masken erscheinen.
R.K.