Weltwoche Kommentar 20/22

Kommentar

Unausgeglichene Liebe

N

ichts ist schöner als die ebenmässige, ausgeglichene Liebe. Sie ist der Stoff ungezählter Hollywoodfilme, der ewige Sehnsuchtstraum des Menschen, irgendwo, irgendwann die Person zu finden, in der man sich aus Liebe verliert, sich uneingeschränkt hingebend, eintaucht in einen warmen Ozean des Vertrauens, der totalen Innigkeit, wo die Grenzen zwischen Ich und Du verschwimmen, aber eben so, dass man sich dabei nicht abhandenkommt, sondern im Gegenteil im andern sich erst richtig findet, vorstösst in unentdeckte Zonen des Selbst, zweisam vereint, auch in der körperlichen Verfliessung, die dann als Ausdruck einer fast schon überirdischen, dem Materiellen, Fleischlichen entrückten Glückseligkeit empfunden wird.

Das ist wunderbar, es kommt im realen Leben sicher auch vor. Doch die Wirklichkeit der Liebe läuft oft, vielleicht meistens darauf hinaus, dass der eine mehr liebt als die andere, die eine mehr als der andere im lodernden Feuer der Gefühle steht. Und die Frage lautet, ob die Unausgeglichenheit der Liebe ein Problem darstellt, das zu lösen ist, oder vielmehr die Normalität verkörpert, die zu verkraften und zu ertragen uns das Schicksal, Gott, unsere Natur aufgetragen hat. Lieben Frauen mehr als Männer, oder sind gerade die Männer dazu bestimmt, die Frauen mehr zu lieben? Diese Lebensfrage ist zu klären.

Auf den ersten Blick scheint die Antwort trügerisch klar: Wer mehr liebt, ist der Unterlegene. Er oder sie leidet, erlebt die Liebe als beständige Nahtoderfahrung drohender Ablehnung, Zurückweisung durch den Stärkeren, Erlebnis der Schwäche, Kränkung der Sehnsucht, in der Liebe die höchste Form der Anerkennung zu erfahren, das Aufgehobensein im andern und damit die Vollendung der Geborgenheit, die uns befreit von der ätzenden Säure der Selbstzweifel, die an den Herzen und am Ego der sich einsam Fühlenden frisst.

Erlösung.

Handkehrum ist ein Grossteil der von Männern verfassten Weltliteratur ein einziger Urschrei wider das Unheil der verschmähten, nicht oder nicht ausreichend erwiderten Liebe. Die Unausgeglichenheit erscheint hier als Treibstoff der Kreativität, als Quelle grosser Kunst, Musik, im Grunde allen Schaffens, Gründens, Eroberns, das letztlich aus Sicht des Mannes dazu dient, die Aufmerksamkeit der geliebten Frau zu wecken oder aber über deren Unerreichbarkeit hinwegzukommen.

Die Liedzeile «La donna è mobile» in Verdis «Rigoletto» drückt diese männliche Urahnung aus, wonach der Mann sich der steten, lauernden Gefahr ausgesetzt sieht, von der mühselig ausfindig gemachten Angebeteten in jedem Moment, ansatzlos, verlassen zu werden. Nichts ist flüchtiger als das Glück, das der Mann in Gestalt seiner Herzensgeliebten zu besitzen glaubt.

Und noch vertrackter: Hat der Mann die Frau gesichert, ist die Gefahr gebannt, besitzt er das Glück tatsächlich, schwindet es dahin, verliert es seine betäubende, mitunter lähmende, geradezu dämonisch-charismatisch süsse Macht. Für den Mann, man muss es ehrlich aussprechen, ist das, was er für die Liebe hält, oft genug nur eine romantisch vernebelte Form seines Jagd- und Beutetriebs, der in dem Moment erschlafft, da er das Objekt seines Wollens und Drängens vollständig unter Kontrolle wähnt.

Auf den ersten Blick scheint die Antwort trügerisch klar: Wer mehr liebt, ist der Unterlegene.

Das sind natürlich Gedanken, die man nicht äussern sollte, da sie als uncharmant empfunden werden können. Wahr ist aber auch, dass die Frauen die Männer längst durchschaut haben, ohne ihnen allerdings den Rausch ihres romantischen Selbstgefühls zu nehmen. Im Gegenteil, sie stacheln es an, halten die Nachfrage aufrecht, indem sie sich dem Mann entziehen, ihn in seinem jägerischen Beutedrang bewusst im Ungewissen lassen. Er soll sich nie zu sicher fühlen.

Irrig ist die Meinung, es sei der Mann, der kraft seiner eingebildeten Unwiderstehlichkeit die Frau «erobert», die uneinnehmbar scheinende Festung «knackt». Die Frauen, und nur die Frauen, bestimmen, ob es zwischen beiden etwas wird. Oder eben nicht.

Jede grosse Liebe beginnt mit einem Nein der Frau. Und nur der Mann, der die Kraft hat, durch den Todesstreifen seiner Verneinung zu marschieren, ohne die Fassung und den Anstand zu verlieren, qualifiziert sich für das Glück, das die ersehnte Frau für ihn verkörpert.

Die Strategie des gezielten Liebesentzugs lässt die These plausibel erscheinen, dass Beziehungen nur dann stabil sein können, solange der Mann die Frau mehr liebt als umgekehrt. Darin allerdings steckt bereits wieder eine unterschwellige Geringschätzung, eine Herabwürdigung, dass nämlich die Frauen angeblich liebesbedürftiger, demnach unselbständiger und weniger unabhängig seien als die Männer. Während der Mann, so die Theorie, sich im Beruflichen verwirklichen, Bestätigung finden könne, sei für die Frau das Gefühl des abgöttisch Geliebtwerdens alternativlos, allein bestimmend angeblich für ihr Selbst- und Weltvertrauen.

Ich bin nicht sicher, ob das stimmt. Es gibt auch unausgeglichen, überschüssig liebende Frauen, die trotzdem bei ihren Männern bleiben, glücklich, selbstbewusst, und sei es nur, um die Macht der Liebe im Notfall durch die Macht des schlechten Gewissens zu ersetzen, das sie ihren Männern, die sie des Liebesmangels verdächtigen, einpflanzen. Für den weniger Geliebten gilt zudem die tröstende Wahrheit, dass der mehr Liebende intensiver, erfüllter lebt als der Mensch, der mehr geliebt wird, aber weniger liebt.

Interessanterweise kann sich das Ungleichgewicht der Liebe in einem Lebensalter auch verschieben. Es gibt Paare, bei denen zunächst der Mann und dann die Frau mehr liebt oder umgekehrt, eine Art ausgleichende Unausgeglichenheit, bei der die Summe der Gefühle am Ende, wenn auch nicht gleichzeitig, wieder gleichmässig verteilt ist.

Muss der Mann die Frau mehr lieben? Frauen neigen dazu, ihren Männern diesen Auftrag auf fantasievolle, nachdrückliche, manchmal gebieterische bis fast schon handgreifliche Weise einzuschärfen. Aber auch hier öffnen sich für den Mann Abgründe. Frauen lieben keine Klebstreifen, wollen keine männlichen Kletten, die zu anhänglich, zu haustierhaft, zu unterwürfig sind. Es braucht im Mann eben doch noch eine Restmenge des nomadischen Abenteurers, der dem Besitzanspruch der Frauen trotzig widersteht, auf dass ihre Liebe niemals verglimmen möge.

R.K.

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