Weltwoche Kommentar 2/23

Kommentar

Lob der Provokation

D

er Krieg sei der Vater aller Dinge, soll der griechische Philosoph Heraklit gesagt haben. Mag sein. Auf jeden Fall ist die Provokation die Mutter aller Erkenntnis. Jede Wahrheit, jeder Fortschritt, vermutlich jede Lösung eines Problems hat ihre Laufbahn als Provokation begonnen. «Das Wahre ist das Ganze», heisst es bei Hegel. Und weil die Menschen das Ganze niemals überblicken, müssen sie sich herantasten, heranfragen, herandenken – mit dem Instrument der Provokation.

Provokationen sind Anstösse, Blitze, Frischluft fürs Gehirn. Sie regen an – und auf. Schlechte Provokationen erledigen sich von selbst. Sie verzischen und verzucken ohne Wirkung, ohne etwas auszulösen. Gute Provokationen rufen etwas hervor, meistens Widerspruch, eine Diskussion, einen Streit, Rede und Gegenrede, These, Antithese, Synthese. Ohne Provokationen gäbe es keine Wissenschaft. Forscher sind Provokateure. Sie legen sich an mit dem, was alle für wahr halten.

Provokationen sind gefährlich. Wahrheiten sind oft Konventionen, Übereinkünfte, Vereinbarungen, Befehle, soziale Konstrukte. Menschen brauchen Wahrheiten, legen sie fest, sprechen sie heilig, um sich darum wie um ein wärmendes Lagerfeuer zu versammeln. Nichts hassen die Menschen mehr, als wenn man ihnen das wärmende Feuer entreisst, ihnen die Bausteine und Legoklötze wegnimmt, auf denen sie ihr Weltbild, ihre Wahrheiten errichtet haben. Provokateure sind einsame Helden, Winkelriede des Denkens, Vorkämpfer der Freiheit. Sie leben riskant. Der Provokateur ist der Feind der geschlossenen Ordnung, Gegner der Orthodoxie, eine stete, real existierende Bedrohung der Macht. Provokateure hinterfragen, was als selbstverständlich gilt. Deshalb landen sie in Folterkellern, auf Scheiterhaufen, in Gefängniszellen. Wo es keine Provokation mehr gibt, beginnt die Despotie.

Die grösste Provokation ist die Demokratie. Demokratie heisst, dass nicht die Starken über die Schwachen herrschen, sie ausbeuten und unterdrücken dürfen. Demokratie ist die institutionelle Umsetzung des christlichen Gedankens, dass jeder Mensch gleich bedeutend, gleich wertig ist vor Gott. Kein Wunder, wurden die Propheten, die als Erste solches verkündet haben, ans Kreuz genagelt. Am Ende aber überwanden die Demokraten die Despoten.

Der Grund ist logisch: Nur Demokratien erlauben die Provokation, die offene Rede, die Meinungsäusserungsfreiheit. Deshalb sind sie den Despotien, auch den intelligentesten, geistig immer überlegen. Nur dort, wo frei geredet und gedacht und provoziert werden kann, lassen sich Irrtümer entlarven, Scheinwahrheiten zertrümmern, falsche Heilige vom Sockel holen, Fehler korrigieren. Doch die «offene Gesellschaft » (Karl Popper) ist die grosse Ausnahme der Geschichte.

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ie Schweiz ist das provokativste Land der Welt, weil sie das demokratischste Land der Welt ist. Demokratien ertragen die Provokation, auch die verletzende, denn Provokationen sind das Instrument der Schwächeren, der Kleinen, der Vergessenen und Übersehenen, der Minderheiten, denen man in Demokratien besonderen Schutz und mehr Freiheit gewährt, ihre Meinungen, ihren Widerspruch, ihre andere Sicht laut und deutlich kundzutun.

Immer hassen die Mächtigen, die Etablierten und Arrivierten die Provokation. Am liebsten würden sie sie verbieten. Sie versuchen es laufend, bis heute, immer wieder, Zensur, eingepackt in die süssliche Verlogenheit grosser Worte. Die Zensoren reden von «Anstand», von «Kultur» und «Zivilisation», einst redeten sie von «Gott», doch am Ende geht es um sie selbst, um ihre Macht, um ihre Wahrheit, um ihre Sicht und Meinung, der nicht widersprochen werden darf.

Provokationen machen uns intelligenter, indem sie uns vor den Kopf stossen, aus dem Vertrauten und Bekannten herausreissen. Provokationen produzieren Sensibilität, Achtsamkeit fürs andere. Sie befreien uns von Vorurteilen, oder sie verhelfen uns zu besseren, klügeren Vorurteilen. Provokationen sind das Lebenselixier des Geistes. Sie sind Produkte, aber auch Voraussetzungen der Freiheit. Ohne Provokationen ginge der Mensch, ginge die Welt zugrunde.

R.K.

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