Weltwoche Kommentar 19/23

Kommentar

Das Wahre ist das Ganze

D

er Titel dieses Editorials ist geklaut. Den Satz erstmals geschrieben hat der deutsche Überphilosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831), eine Monumentalfigur des 19. Jahrhunderts, vermutlich einer der klügsten und fleissigsten Menschen, die je gelebt haben, brillant, auf eine nicht unsympathische Art grössenwahnsinnig, zu wenig wirklich gelesen, oft missverstanden, für die einen ein Held, für die anderen eine finstere Gestalt, die sie für ein paar der schrecklichsten geistigen Verwirrungen der Menschheit verantwortlich machen, unter anderem für den Marxismus.

Ich sehe das anders. Hegel war ein Genie. Ich kann nicht behaupten, alle seine Schriften gelesen, geschweige denn verstanden zu haben, aber unser Professor an der Uni hatte zu diesem schwierigen Autor eine vernünftige Devise: Hegel lesen sei wie fliegen. Wer es zu langsam tue, ­stürze ab. Man muss sich also auf diesen Denker mit dem Mut zur fundierten Oberflächlichkeit stürzen. Dann, und vielleicht nur dann, kann daraus eine fruchtbare Beziehung werden. Für meine Hegel-Lektüre, die mit Unterbrüchen über dreissig Jahre dauert, trifft es zu.

«Das Wahre ist das Ganze.» Ich glaube, dieser Satz steht in Hegels phänomenaler Schrift «Phänomenologie des Geistes» von 1807. Das Vorwort beendete der Philosoph, damals in Jena lehrend, ausgerechnet dann, als nur wenige Kilometer entfernt in der berühmten Schlacht der Franzosenkaiser Napoleon die preussischen Truppen vernichtend schlug und das Heilige Römische Reich Deutscher Nation auflöste, um stattdessen seine eigene Version des Römischen Reichs unter dem Feldzeichen der alten Legionen, dem Adler, und den Werten der Aufklärung zu begründen.

Viele sehen in Napoleon heute einen fürchterlichen Diktator und Massenmörder, der Hunderttausende in den Tod trieb und am Schluss alles verspielte, was er aufgebaut hatte. Für Hegel war der «Empereur» der «Weltgeist zu Pferde», der Universalmensch der damaligen Zeit, Verkörperung aller Gegenwartstendenzen, die der Philosoph in seinen Schriften zu fassen versuchte, ein bis heute unerreichtes Denkgebäude. Hegels Werk ist eine Art Kölner Dom der Philosophie, so kühn und so vollkommen, dass beim Betrachter das Staunen fast schon in Misstrauen umschlägt.

«Das Wahre ist das Ganze»: Diesen Satz Hegels verstehe ich so, dass man die Welt nur begreifen kann, wenn man alles in seinen Zusammenhängen und Gegensätzen als das Produkt geschichtlicher Prozesse, eben als Ganzes sieht. Nichts ist allein aus sich selbst heraus verständlich, die Wirklichkeit ist ein dauerndes Werden und Vergehen, ein Gemenge von Kräften und Gegenkräften, Tendenzen und Widertendenzen, die sich gegenseitig erzeugen und

Hegel trotzte dem Herdentrieb des Menschen, stellte die Freiheit ins Zentrum seines Denkens.

erklären. Hegel war ein scharfsinniger Diagnostiker, der die Philosophie als Methode sah, die dem Denken, ja dem Menschen ganz allgemein innewohnende Einseitigkeit zu überwinden.

Hegel erkannte: Einseitigkeit ist Gift, der grösste Feind des Denkens. Wir würden hinzufügen: nicht nur des Denkens, sondern auch des Handelns. Wer nur eine Seite sieht, sieht bestenfalls die Hälfte, denkt folglich einseitig, entscheidet einseitig, handelt einseitig und damit irrig. Vermutlich würden bis hierhin die meisten beipflichten, aber sobald wir Hegels Befund auf die Gegenwart anwenden, ist die Einigkeit dahin. In fast allen Themen, die wir heute diskutieren, regiert die Einseitigkeit, regiert das «abstrakte Denken», wie Hegel formuliert, scheint Einseitigkeit geradezu Pflicht.

Hegel war ein Philosoph des Verstehens. Vielleicht war Hegel der grösste Versteher, den die Welt je gesehen hat. Er hätte wohl sarkastisch gelächelt, wenn ihm einer gesagt hätte, dass die philosophisch-aufklärerische Tugend des Verstehenwollens einmal unter Verdacht geraten würde. Vielleicht hätte er auch nicht gelächelt und stattdessen zu verstehen versucht, warum Menschen, anstatt sich der Instrumente ihres Denkens frei zu bedienen, dazu neigen können, gleichsam eine Hirnhälfte abzuschalten, um der Einseitigkeit zu erliegen und die Vielseitigkeit zu ächten.

Kein Denker fehlt heute schmerzlicher als Hegel. Sei es Klima, Corona, Gender oder jetzt der Krieg in der Ukraine. Die Diskussionen darüber laufen bei uns derart einseitig, dass die Ergebnisse dieser Diskussionen nur schon deshalb nicht stimmen können. Die fletschende Intoleranz, mit der die angeblich richtigen Meinungen bei uns vorgetragen werden, hat längst etwas im schlechten Sinn Religiöses, etwas Sektiererisches. Hegel kannte dieses Phänomen, den Tugendterror, die Gesinnungsraserei der Französischen Revolution. Es gibt nichts Neues unter der Sonne.

Einseitigkeit ist Einfalt, und beides wäre gemäss Hegel auch ein Symptom des Verfalls von Institutionen. Demokratie heisst Auswahl, Vielfalt. Sie muss sichergestellt werden durch Gesetze, Parteien, Medien, Kirchen, Vereine, alle Bürger, Regierungen. Wenn alle Parteien mehr oder weniger das Gleiche erzählen, wenn die Medien den Regierungen nachschreiben, wenn Kirchen dem Zeitgeist huldigen, statt Widerstand zu leisten, wenn sich das Gefühl ausbreitet, man könne seine Meinung nicht mehr sagen, ohne dafür bestraft oder ausgegrenzt zu werden, ist etwas faul im Staat.

«Das Wahre ist das Ganze»: Hegel war ein genialer Philosoph und Schriftsteller, wenn auch mit einem etwas sperrigen Stil. Hegel trotzte dem Herdentrieb des Menschen, stellte die Freiheit ins Zentrum seines Denkens, die Freiheit, ja den Mut, das Ganze sehen und verstehen zu wollen. Nichts kann ohne sein Gegenteil, seine Gegenkraft verstanden werden, rechts nicht ohne links, Russland nicht ohne Amerika, Europa nicht ohne Asien, die Schweiz nicht ohne die EU, kein Krieg ohne die Geschichte aller Kriegsparteien, die sich daran beteiligen.

Hegels Denken der Vielseitigkeit alles Wirklichen ist der Feind der Propaganda. Wir leben in Propaganda-Zeiten. Darum ist das Verstehen verboten, steht «das Ganze» unter Verdacht, ist die Wahrheit unerreichbar geworden und die Lüge zur Norm. Wir brauchen mehr Hegel, mehr Vielfalt, weniger Propaganda, mehr Verstehen. Das Ganze, die Wahrheit, muss wieder gedacht werden dürfen. Hegel ist eine Radikalkur zum Gift des einseitigen, kriegerischen Denkens. Das macht ihn zum Philosophen nicht nur der Freiheit, sondern zu einem der weltgrössten Denker des Friedens.

R.K.

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