Weltwoche Kommentar 18/24

Kommentar

Lehren aus Vietnam

Weisheit kommt zu uns,
wenn sie nichts mehr nützen kann.
Gabriel García Márquez
D

das Zitat entnehme ich einem grossartigenBuch des amerikanischenJournalisten Mark Bowden über einefolgenreiche Schlacht des Vietnamkriegs: «Huê1968». Über 600 packend geschriebene Seitenerkundet der Reporter, was in Vietnam damalsschieflief für die Amerikaner. Es ist eine Chronikder guten Absichten, der Missverständnisse, derVerblendungen, der namenlosen Gewalt unddes Verbrechens, auch auf Seiten der vietnamesischenKommunisten, die in der alten KaiserstadtHuê Tausende von «Kollaborateuren» zum Teilbei lebendigem Leib begruben.

Am Schluss gewannen die zunächst komplettüberrumpelten Amerikaner die Schlachtum die vietnamesische Kultur-, BildungsundKaiserstätte. Doch es brauchte 24 Tage erbitterterHäuserkämpfe, ein tropisches Stalingrad,nach dem dann ein Grossteil Huês, vorallem die alte Zitadelle mit dem kaiserlichenPalast, dem Versailles Südostasiens, in Trümmernlag. Das Bonmot eines US-Offiziers traf espunktgenau: «Mussten wir die Stadt zerstören,um sie zu retten?» Selten ist der absurde Wahnsinndieses Kriegs hellsichtiger in einen Fragesatzverdichtet worden.

Was lernen wir daraus? Die Amerikaner habensich im Vietnamkrieg schrecklich verrannt. Siehaben ihren Gegner falsch eingeschätzt. Siewaren überheblich. Sie betrogen sich selber undhaben sich von ihrem Idealismus in die Irre treibenlassen. Mein Eindruck ist, sie seien im Begriff,gegenüber Russland in der Ukraine ähnlicheVerirrungen durchzumachen. Wurzel desÜbels ist erneut die falsche Beurteilung des Gegners.Russlands Präsident Putin gilt im Westenlängst als Ersatzteufel, als neuer Hitler. «Putler»nennen ihn irrig die Verbreiter des Irrtums.

Die Vermonsterung des Kremlherrschers zumhitlerschen Scheusal dient dem Westen mittlerweileals Entschuldigung dafür, dass er auf jedeDiplomatie verzichtet. Man scheint sich erneutin einen Krieg verrennen zu wollen. Eben erst hatdas US-Parlament ein Militärpaket von 61 MilliardenDollar an die Ukraine abgesegnet. UnsereMedien sind nicht bereit, diese Waffenhilfeernsthaft in Frage zu stellen. Sie haben sich demHitler-Narrativ bereits distanzlos ausgeliefert.Man verbreitet die Theorie, Putin würde, wennwir ihn in der Ukraine nicht stoppen, mongolenmässigweitermarschieren gegen Europa.

Mich überzeugen diese durch nichts belegtenBehauptungen wenig. Zunächst: Warumsolltees Putin tun? Eroberung von Paris? Rom?Lissabon?Wozu? Quadratkilometer hat ergenug. Sein Ziel ist nicht Landgewinn, sondernSicherheit. Die Russen machten immer klar: Wirwollenkeine Nato-Ukraine, nicht noch mehrUS-Atombasen in der Nähe unserer Grenze. Dasist der Kern des Konflikts. Aus einer Position derStärke unterzeichnete Putin die Verträge vonMinsk. Doch den Amerikanern war das nie gutgenug. Sie rüsteten die Ukraine auf, zeuseltenmit der Nato zum Krieg auf der Krim.

Wer ist in diesem Machtspiel eigentlich der«Aggressor»? Der Ukraine-Krieg wäre zu vermeidengewesen. Man hätte sich einigen könnennach dem Plan des verstorbenen HenryKissinger: neutrale Ukraine ohne Nato-Beitritt,EU-Mitgliedschaft möglich, keine weiterenUS-Raketenbasen in der Nähe von RusslandsGrenze. Doch zu keinem Entgegenkommenwaren die Amerikaner bereit. Sie pushten weiter,bis die Russen sich wehrten, ebenso wie es anihrer Stelle die USA täten. Und auch taten. Als dieSowjets 1962 Atomraketen auf Kuba stationierenwollten, drohten sie dem Kreml mit Weltkrieg.Manche Experten und Politiker im Westenargumentierenheute gefährlich nahe an derVietnam-Linie der Vereinigten Staaten vor einemhalben Jahrhundert: Sie schwelgen in masslosenFeindbildern, reden sich den Kriegsverlauf mitgeschminkten Zahlen schön, scheinen berauschtvon Visionen moralischer Unfehlbarkeit, sortierenwie im Kalten Krieg die Welt in Gut gegenBöse und graben sich immer tiefer ins Loch, indem sie bereits stecken. Allerdings gibt es auchmarkante Unterschiede. Sie sollten vor allemjenen zu denken geben, die, wie einst die USA,den Endsieg nahen sehen.

Im Dschungelkrieg von Vietnam stieg aufSeiten des Gegners mit jeder amerikanischenBombe, mit jedem amerikanischen Gefechtserfolgder Wille zum Widerstand. Den ArmeenHo Chi Minhs strömten die Freiwilligen zu,obschon ihnen die USA schwere Verluste zufügten.Umgekehrt ist es in der Ukraine: PräsidentSelenskyj muss seine Soldaten mühsam zusammenkratzen,zwangsverpflichten. Offenbarlässt in der Ukraine die Kampfbereitschaft nach.Vielleicht auch deshalb, weil die Ukrainer diesenKrieg ganz anders, kritischer, realistischer sehenals die Kriegsenthusiasten im Westen.

Derweil rutscht die Nato immer tiefer hinein.Es droht die Direktkonfrontation von Nuklearmächten,brandgefährlich. Noch sind keine regulärenTruppen dort, erst «Berater», aber sobegann es für die Amerikaner auch in Südostasien.Etwas allerdings ist heute ganz anders alsdamals: Der Vietnamkrieg war ein Tiefpunktder amerikanischen Politik, aber er war eineSternstunde des amerikanischen Journalismus.Unerschrockene Reporter deckten die Lügenihrer Politiker auf und trotzten der Propagandader eigenen Behörden. Heute beten sie sie nach,ein krasser Rückschritt.

Ohne die mutigen Berichterstatter hättedie Öffentlichkeit nie oder erst viel später dieAusmasse des Vietnam-Debakels erfahren. DieArbeit der Journalisten trug wesentlich zurBeendigung des sinnlosen, verbrecherischenBombenterrors bei. Heute fehlt diese Hinterfragungweitgehend. Die Medien bilden eineBrandmauer, einen Schutzwall gegen Kritik.Fast am lautesten rufen heute die Journalistennach mehr Waffen und Krieg. Verrückt.Den Preis zahlen vor allem die Ukrainer unddie Russen. Kommt die Weisheit auch heuteerst dann wieder zu uns, wenn sie nichtsmehr nützt?

R.K.

Cover: Rembrandt – Christus im Sturm auf dem See Genezareth, 1633/Wikipedia

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