Die Welt von morgen und die neutrale Schweiz
Wer ein Urteil ohne Anhören der anderen Seite fällt, ist ungerecht, wenn er auch ein gerechtes Urteil fällte.
Seneca
Berlin
ie Welt verändert sich. Immer. Nicht zum Schlechten. Die Menschen sind nicht dumm. Keineswegs arbeiten sie ihrem Untergang entgegen. Ich glaube nicht an einen Grundtrieb zum Bösen. Die Menschen schaden sich aus Irrtum oder Verblendung. Am gefährlichsten sind sie dann, wenn sie sich im Bund mit Gott, im unfehlbaren Besitz der Wahrheit und des Guten wähnen. Perfektion ist unerreichbar, aber alle versuchen, für sich das Beste herauszuholen. Natürlich passieren fürchterliche Fehler, geschieht oft namenloses Unheil. Irren ist menschlich. Aber unbestreitbar bleibt die Tatsache, dass der Fortschritt existiert. Man beachte nur die Aktienkurse seit 1900 oder die Zahnmedizin.
Ich bewundere die USA
Die Welt verändert sich. Rasant. Noch vor kurzem schien die Weltdominanz der Amerikaner unbestritten. Sie gewannen den Ersten Weltkrieg, den Zweiten Weltkrieg, den Kalten Krieg. Ihre Währung, der Dollar, war die Universalsprache der Wirtschaft. Kulturell gaben sie den Ton an, auf den Leinwänden, in der Musik, im Sport. Nie dürfen wir vergessen, dass die USA – zusammen mit den Russen – das kriegsverwüstete Europa von der Tyrannei befreiten. Dafür haben sich junge Amerikaner aufgeopfert, Burschen zum Beispiel aus dem Mittleren Westen, die für uns ihr Leben riskierten auf einem fremden Kontinent. Dass die USA gleichzeitig begannen, aus eigenen geopolitischen Interessen die kommunistischen Sowjets in Europa zurückzudrängen, tut dem keinen Abbruch und geschah auch im ureigenen Interesse unserer Freiheit.
Ich bewundere die USA. Auch wenn ich die gegenwärtige US-Regierung für eine Katastrophe halte, bleibt mein Vertrauen in die Amerikaner ungebrochen. Sie sind tüchtig, pragmatisch, marktwirtschaftlich, wettbewerbsbegeistert, eigentlich apolitisch, möchten vom Staat am liebsten in Ruhe gelassen werden. Aufgrund ihrer Geschichte (Sklaverei) und der Religion ihrer Gründer (radikaler Protestantismus) sind sie zwar anfällig für Moralismus («Woke»), aber insgesamt von erdbebensicherer Bodenständigkeit mit einer Demokratie der Freiheit, Eigenverantwortung und Entfaltung, die weltweit inspiriert, auch in der Schweiz.
Der relative Machtverlust der Amerikaner ist auch ein Segen – nicht zuletzt für die USA.
Trotzdem: Die Welt verändert sich, sie wird vielfältiger und löst sich von der einseitigen Dominanz der USA. Das ist für die Amerikaner, vor allem für ihre Politiker, ein schmerzhafter Vorgang. Wir werden sehen, wie souverän sie den relativen Niedergang ihrer Supermacht bewältigen, ob sie cool bleiben oder durchdrehen, aber aus Schweizer, aus europäischer Sicht können wir diesen Prozess der Vervielfältigung, das Aufholen anderer Zivilisationen in einer «multipolaren Welt» nur begrüssen. Vielfalt ist der Einfalt immer vorzuziehen. Freiheit erfordert Auswahl und Wettbewerb. Macht korrumpiert, und absolute Macht korrumpiert absolut. Darum ist der Machtverlust der Amerikaner auch ein Segen – nicht zuletzt für die USA.
Segensreicher Aufstieg der andern
Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs, zum Teil schon vorher, beobachten wir den Aufstieg Chinas, Russlands, Asiens überhaupt, aber auch Afrika bewegt sich, Südamerika, der Mittlere Osten, die arabische Welt. Die einstigen Kolonien des Westens regen sich, stehen auf, haben enorm profitiert vom Welthandel, dieser unterschätzten Urtriebfeder der Zivilisation. Natürlich gehen Gewichtsverlagerungen der Macht nicht immer konflikt- und spannungsfrei vor sich, auch Kriege bleiben leider aktuell, doch wir sollten uns davor hüten, die Differenzen und unvermeidlichen politischen Karambolagen als existenzielle, unüberbrückbare Gegensätze fehlzudeuten. Das sind sie nicht.
Viele in den Medien und in der Politik, die berufsmässigen Beobachter des Geschehens vor allem bei uns im Westen, neigen dazu, die Welt in den Schablonen des 20. Jahrhunderts zu erklären, in schroffen Kontrasten, schwarzweiss, hier die Demokratie, dort die Diktatur; hier Freiheit und Rechtsstaat, dort drüben Sklaverei und Despotie; hier die Guten, dort die Bösen. Das sind schreckliche, gefährliche Irrtümer, die nichts Gutes bewirken können, Treibstoff für Hetzer, Kriegstreiber und Selbstgerechte. Tatsache ist, dass die Welt, dass die verschiedenen Kulturen und Zivilisationen sich bei allen, zum Teil erheblichen Unterschieden immer ähnlicher geworden sind.
Amerika, Europa, Russland und China sind keine Todfeinde mehr. Es stehen sich keine unversöhnlichen, einander bekriegenden und ausschliessenden Systeme gegenüber wie früher. Die Monarchien sind gefallen, die mörderischen Ideologien des 20. Jahrhunderts, Nationalsozialismus und Internationalsozialismus, sind Geschichte. Die Menschheit ist heute auf gemeinsamen globalen Märkten unterwegs, geprägt natürlich von unterschiedlichen historischen Erfahrungen und Traditionen, aber niemand wird bestreiten, dass uns heute mehr verbindet mit allen anderen denn je in unserer Geschichte.
Audiatur et altera pars
Nüchternheit ist gefragt. Und Wirklichkeitssinn. Wir sind gefordert, das überwiegend Verbindende über das Trennende zu stellen, das Gemeinsame zu suchen, zu fördern, einander respektvoll zu begegnen, im Wissen auch darum, dass die Weltgeschichte eine Abfolge von Missverständnissen und gefühlsgetriebenen Irrtümern gewesen ist, die gelegentlich zu Katastrophen ausschlugen. Audiatur semper et altera pars! Es möge stets auch die andere Seite gehört werden. Ja, es herrscht Krieg in der Ukraine, aber gerade deshalb sollten wir bei aller Empörung unsere Emotionen in Schach halten, das Herz kühlen, unser Hirn aktivieren, die eigenen Interessen abwägen und es auf keinen Fall zulassen, dass wir diesen Krieg, eine eigentlich regionale Auseinandersetzung um Sicherheitsinteressen im Gefolge des Zusammenbruchs der Sowjetunion, zu einem Weltkrieg ausweiten. Krieg ist auch eine Verführung. Vor allem dann, wenn man ihn nicht selber führen muss. Wir dürfen dieser Verführung nicht erliegen.
Die «multipolare Welt» ist eine Realität. Der Westen glaubte, mit seinen Sanktionen Russland zu isolieren. Nun stellt der Westen ernüchtert fest, dass er sich mit seinen Sanktionen selber isoliert. Immer mehr Länder wenden sich ab. Sie haben keine Lust, sich in einen Krieg um eine ehemalige Sowjetrepublik, lange auch Teil des russischen Imperiums, hineinziehen zu lassen. Sie wollen sich auch keiner von den USA diktierten Weltordnung unterwerfen. Die Chinesen treten plötzlich als Friedensvermittler im Nahen Osten zwischen Arabern und Persern auf. Präsident Xi versucht, mit seiner eigenen Version der einstigen Dollardiplomatie eines William Howard Taft die Selenskyj-Regierung in Kiew von ihrem Kriegspfad abzubringen. Die allermeisten Länder schliessen sich den Boykotten nicht an. Präsidenten wie Brasiliens Lula oder Erdogan in der Türkei entwickeln diplomatisches Profil. Inzwischen schwankt sogar die Weltherrschaft des Dollars.
Europa, Grossmacht der Bescheidenheit
Europa sollte sich der multipolaren Welt öffnen, sich aufgeschlossen zeigen. Europa ist ein Kontinent der Kriege und Niederlagen. Schmerzliche Erfahrungen haben die Europäer bescheidener und sensibler gemacht, man könnte auch sagen, schweizerischer. Europa wäre vorherbestimmt, um in dieser neuen Welt als Brücke der Verständigung zu dienen, als Therapiezentrum des Friedens und des Gesprächs, als Grossmacht der Bescheidenheit, der politischen Neutralität, der Bildung, Wirtschaft und Weltoffenheit. Leider hat der Fehlentscheid des russischen Präsidenten Putin, seine Probleme in der Ukraine militärisch zu lösen, die Europäer nun wieder hauteng an die Seite der Amerikaner geklebt, alte Gräben aufgerissen. Das ist ein Rückschritt, denn gerade Europa hatte sich zuletzt von den USA gelöst, seine Bindungen an Russland und China vertieft. Nun ist einiges davon, wenn auch nicht alles in Frage gestellt.
Es wäre dumm, in einer Sackgasse weiterzumarschieren. Zum Glück ist kein vernünftiger Politiker in Europa heute ehrlich der Meinung, dass wir wegen des Konflikts um die Ukraine die Welt wieder in eine absurde Version des Kalten Kriegs stürzen sollten. Die Amerikaner säbelrasseln in Richtung China, aber ich halte es für ausgeschlossen, dass Europa da mitmachen wird. Es wäre politischer und vor allem wirtschaftlicher Selbstmord. Lassen wir uns von den Kriegstreibern und Maulhelden in den Medien nicht blenden, von der geballten Scheinheiligkeit und Selbstgerechtigkeit vieler Meinungsmacher. Die Welt ist zum Frieden, ist zur Zusammenarbeit verdammt. Mehr denn je. Wir können es uns nicht leisten und sollten uns deshalb auch nicht auf die Scholle, in die Höhle zurückziehen. Friedliche Koexistenz ist das Gebot der Stunde – über alle Unterschiede der Kulturen und Interessen hinweg. Früher oder später wird sich diese Einsicht auch öffentlich durchsetzen.
Trumpfkarte Neutralität
Die Schweiz wäre mit ihrer Neutralität hervorragend ausgestattet für diese neue Welt der Multipolarität, des Gleichgewichts der Mächte. Der US-Diplomat Henry Kissinger beschrieb die Gegenwart einmal in Analogie zum 19. Jahrhundert. Damals gab nicht eine Macht einsam den Ton an, sondern mehrere grosse Staaten bemühten sich darum, die Balance zu wahren. Das ist nicht ohne Risiko, aber sicher besser als die dauerhafte Vorherrschaft nur eines Hegemonen, der stets den korrumpierenden Wirkungen seiner Allmacht ausgesetzt bleibt. Die schweizerische Neutralität ist ein völkerrechtliches Produkt dieses 19. Jahrhunderts, ein Privileg, das uns nicht zuletzt auf Betreiben des russischen Zaren Alexander I. hin gewährt worden ist. Die Russen haben uns auch sonst noch nie etwas zuleide getan. Wo bleibt die Dankbarkeit?
Gerade im Krieg muss die Schweiz unparteiisch sein und blockfrei, mit allen reden, sich nirgends anbinden.
Doch wie so viele Staaten im Westen ist auch die Schweiz im Überfluss einer mit Gratisgeld befeuerten Hochkonjunktur dekadent und übermütig geworden. Die heute lebenden Schweizer kennen nur den Frieden. Sie haben den Wert der Neutralität als Instrument der Sicherheit vergessen. Selbst einige unserer Diplomaten liefern sich der verwahrlosten Meinung aus, die Schweiz solle ihre Neutralität aufgeben, um sich an der Seite der Amerikaner ungehinderter in einen Stellvertreterkrieg gegen die Atommacht Russland zu stürzen. Wahnsinn, Verblendung, aber ohne Substanz und Bestand. Die Neutralität wird bleiben. Sie ist nicht nur historisch tief verwurzelt, sie ist auch vernünftig – und aktuell wie eh und je. Gerade im Krieg muss die Schweiz unparteiisch sein und blockfrei, mit allen reden, selbstverständlich, sich nirgends anbinden. Frei bleiben! Tatsächlich gibt es eine Zeitenwende, aber anders, als Politiker und Medien uns glauben machen. Wir erleben eine Zeitenwende weg von einer unipolaren «Pax Americana» hin zu einer «Pax multipla» zahlreicher Mächte und Zivilisationen, ein Fortschritt der Vielfalt auf Kosten der Einfalt. Dieser Krieg wird nicht ewig dauern. Wir müssen über die Gegenwart hinausdenken. Das ist eine riesige Chance, auch für die Schweiz. Wir packen sie am besten, indem wir neutral bleiben.
R.K.