Weltwoche Kommentar 18/22

Kommentar

Eros und Tod

N

ur zwei Dinge interessieren den Menschen wirklich: die Liebe und der Tod. Natürlich hatte der deutsche Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki mit dieser Feststellung recht. Das Rätsel der Liebe verzaubert unser Leben. Der Tod gibt ihm als letzte, unüberwindbare Schranke den Sinn.

Kürzlich moderierte ich auf Servus TV in Österreich eine Sendung über den «Traum vom ewigen Leben». Wir sprachen mit Experten über Möglichkeiten der Lebensverlängerung, Techniken der Todesüberlistung. Sogar das postume Einfrieren wird heute als Variante intensiv erforscht.

Vermutlich ist der Mensch das einzige Lebewesen, das sich seiner Endlichkeit bewusst ist. Schon der Frühmensch versuchte, Tiere und Zeichen an die Wände seiner Höhle kratzend, das Rätsel seiner Existenz zu lösen. Die Konfrontation mit dem Nichts beflügelt unsere Fantasie seit Anbeginn.

Die Frauen sind im Vorteil. Sie können Kinder gebären, Leben hervorzaubern, das grösste Kunstwerk überhaupt. Männer sind Mängelwesen, Götter der Prothese. Sie scheffeln Geld, bauen Kathedralen, Imperien, schaffen Kunst und führen Kriege, um ihre Sterblichkeit zu überwinden. Vergeblich.

Der Traum vom ewigen Leben ist ein Männertraum, auch eine Anmassung. Nach biblischer Vorstellung gebührt die Unsterblichkeit nur Gott. Die Geschöpfe leben flüchtig, sind vergänglich, verwelken, viel schneller, als man es sich vorstellen kann.

Der russische Schriftsteller Vladimir Nabokov («Lolita») eröffnet seine Lebenserinnerungen mit dem grossen Satz: «Über dem Abgrund schaukelt die Wiege, und der platte Menschenverstand sagt uns, dass das Leben nur ein kurzer Lichtspalt zwischen zwei Ewigkeiten des Dunkels ist.»

Ich ertappe mich gelegentlich dabei, dass ich beim Gedanken an meinen Tod innerlich zusammenzucke. Gleichzeitig sendet mein Hirn Signale der Entwarnung. Der Blick in die Unendlichkeit hat auch etwas Tröstliches, Entlastendes. Alle irdischen Probleme verblassen.

Seit dem Mittelalter gibt es die literarische, aber auch volkstümliche Vorstellung des «Jungbrunnens» oder «Lebensbrunnens». Wer darin badet oder davon trinkt, altert nicht, bleibt ewig jung und stirbt nie. Im Film sind es meistens die Bösewichte, die nach dem ewigen Leben trachten.

Das Leben ist das grösste Geschenk. Darin besteht das eigentliche Wunder. Sind wir uns dessen bewusst?

Die Kehrseite des Jugendkults, des Anti- Agings, ist die Verachtung des Alters, das anderen Kulturen fremd ist. Nicht unweit von hier, bereits im Balkan, haben Gross- und Urgrosseltern eine bestimmende, einflussreiche Funktion, während sie bei uns beiseite geschoben werden.

Das Leben ist das grösste Geschenk. Darin besteht das eigentliche Wunder. Sind wir uns dessen bewusst? Die Wahrscheinlichkeit, dass nichts existiert, ist viel grösser als die Wahrscheinlichkeit, dass etwas existiert. Alle Planeten, die wir kennen, sind unbelebt, ausser einem.

Die Beschäftigung mit dem eigenen Tod kann nur zu einem Resultat führen: Dankbarkeit dafür, dass wir leben. Vermutlich ist Dankbarkeit die wichtigste Tugend überhaupt. Die grösste Dankbarkeit gebührt der mysteriösen Kraft, die dafür sorgt, dass etwas ist und nicht einfach nichts.

Heute ist die Lebensverlängerung ein grosses ethisches und nicht zuletzt ökonomisches Thema. Die Grenzen zwischen Lebensverlängerung und Sterbeverlängerung ohne therapeutischen Nutzen sind fliessend. Der Aufstand gegen den Tod kann zur grossen Belastung für die Lebenden werden.

Schon heute ist es ein Wunder, dass unsere Organe achtzig, neunzig, hundert Jahre lang klaglos arbeiten. Wer kennt schon eine durch Menschen konstruierte Maschine, die so lange in dauerndem und oft verschleissendem Betrieb durchhält?

Der Zauber des Lebens ergibt sich auch daraus, dass es endet. In einem berühmten Comicstrip blicken Snoopy, der Hund, und sein Freund, Charlie Brown, vom Ufer aus in die Weite eines Sees.

«Eines Tages werden wir alle sterben müssen », seufzt Charlie Brown.

«Ja», erwidert Snoopy, «aber an allen anderen Tagen leben wir.»

R.K.

Beginnen Sie mit der Eingabe und drücken Sie Enter, um zu suchen