Weltwoche Kommentar 17/24

Kommentar

Barbaren des Westens

Ho-Chi-Minh-Stadt / Saigon
D

ie Weltgeschichte ist eine Abfolge von blutigen Missverständnissen, der Krieg ein Abgrund an Verhängnis, Lüge, Selbsttäuschung und Machtrausch. Das alles lässt sich besichtigen, unverdünnt, in Vietnam, dieser Schlachtbank kolonialer Interessen und Anmassungen aus dem Westen, ein Fallbeispiel des Verbrechens vor allem der Franzosen und der Amerikaner, die dort von Anfang an nichts zu suchen hatten, aber – beflügelt, betrunken von ihrer «mission civilisatrice», die nur ihr Macht- und Profitstreben dekorierte – mehr als hundert Jahre lang wüteten wie kein Barbarenstamm vorher oder nachher.

Nichts ist gefährlicher als eine Gruppe von Menschen, die, von höchsten Idealen beseelt, auch die militärischen Mittel zu ihrer Umsetzung in Händen halten. Es schmälert das westliche Panoptikum des Grauens keineswegs, dass die von ihnen unterjochten vietnamesischen Dynastien und Eliten zuvor selber ihre Imperien errichtet hatten, nicht durch friedliche Mittel, versteht sich, doch was das Regiment des Westens bis heute als Kapitel der Schande aus der Geschichte hervorhebt, ist die verlogene, selbstbetrügerisch hochtönende Art, mit der man sich und der Welt das fürchterliche Gebaren als Ausfluss «westlich-aufgeklärter Werte» vorgaukelte.

Im Grunde sollten die Urheber dieser Untaten für alle Zeiten schweigen und in stiller Andacht der Gräuel gedenken und der ungezählten Millionen Seelen, die sie allesamt ins Jenseits befördert haben, doch so ist der westliche Mensch nicht gebaut. Er vergisst schnell, und kaum entsteigt er seinem letzten Gemetzel, das ihn für einen Lidschlag vielleicht, wenn es hoch kommt, irritiert über sich selbst in nachdenkliche Stimmungen versetzt, kaum also hat er die kurze Phase kritisch-peinlicher Selbsterforschung hinter sich, fühlt er sich erneut ermächtigt, mit der ganzen primitiven Wucht seiner «Werte» in anderen Geländekammern Unheil und Verderben zu säen.

Es ist nachgerade unfassbar, was die Westler in Vietnam angerichtet haben. Zunächst kamen die Franzosen, nach der Niederlage gegen Deutschland 1870 bei Sedan erst recht motiviert, im Fernen Osten die verlorene Glorie zurückzuholen, Räuber und Gangster, die mit nackter Gewalt und rassistischen Theorien biologischer Überlegenheit die «gelbe Rasse» im Mekongdelta und am Roten Fluss gewaltsam unter ihr Joch zwangen. Fast hundert Jahre lang trieben die Franzosen ihr Unwesen, dann schaffte es die vom früheren Geschichtslehrer Vo Nguyen Giap genial geführte Bauernarmee des Ho Chi Minh, im Kessel von Dien Bien Phu die französische Schützengrabenfestung unter General Navarre auszubomben, eine Sensation in der Weltgeschichte des Krieges.

Es folgten die Amerikaner. Sie begründeten ihre aktive Kriegsteilnahme in «Indochina», wie es damals noch hiess, mit erlogenen vietnamesischen Torpedo-Angriffen und argumentierten auf der Linie von Russlands Putin 57 Jahre später beim Ukraine-Überfall: Man wolle den von kriminellen Fanatikern bedrohten Landesteil verteidigen. Ausserdem bedeute der Vormarsch der Roten Garden eine direkte Bedrohung des amerikanischen Systems, mithin eine existenzielle Gefahr für die USA selber im Ringen mit dem Weltfeind zu Peking und Moskau. So schifften die Amerikaner von 1965 bis 1968 insgesamt über 500 000 Soldaten ein, darunter ihre besten Einheiten, 1800 Kampfflugzeuge und Helikopter, die modernsten Bomber, Tausende von Panzern und Artillerie, Gesamtkosten 676 Milliarden Dollar.

Doch die ganze Militärmaschinerie lief in Vietnams Dschungeln auf Grund. Der Feind hatte sich in den Wäldern eingegraben. Jahrelang lebten die «Vietcong» in befestigten Maulwurfsbehausungen, klaustrophoben Höhlenlabyrinthen mit unterirdischen Spitälern und Schulen, ein Réduit des Untergrunds über Hunderte von Kilometern, das jedem Bombenhagel trotzte. Die USA warfen dreimal mehr Sprengstofftonnen über Vietnam ab als über ganz Europa und Asien im Zweiten Weltkrieg. Sie setzten Giftgas ein, Entlaubungsmittel, Dioxin, die an der Uni Harvard ausgetüftelte Teufelswaffe Napalm, auch gegen Wohngebiete. Alles half nichts. Zuletzt tobte sich die frustrationsgetriebene amerikanische Wut in entmenschten Massakern an der Zivilbevölkerung aus, Kindern, Frauen, Babys. Rund drei Millionen Vietnamesen starben, 58 000 Amerikaner.

Vietnam ist das womöglich finsterste Machtexperiment der «westlichen Wertegemeinschaft».

Alle, die sich heute aufspielen und die «Werte des Westens» als zivilisatorische Kampfparole in die Welt hinausbrüllen, sollten zuerst einmal das Kriegsmuseum in Ho-Chi-Minh-Stadt besuchen oder die zahllosen Gedenkstätten im ganzen Land, die an das grässliche Leid erinnern, das die Vietnamesen verkraften mussten, das sie aber auch verbindet mit den ehemaligen amerikanischen GIs, die, verloren in der schlangenverseuchten Dschungelhitze, unter Befehl handelten. Etliche der damaligen Armeeangehörigen, das ehrt sie, stellten sich, nachdem sie aus dem Albtraum erwacht waren, auf die Seite der Kritiker, die eine schonungslose Aufarbeitung der damals begangenen Gräuelverbrechen forderten, darunter der ehemalige Oberkommandierende General William C. Westmoreland.

Vietnam ist das womöglich finsterste Gewaltund Menschenexperiment, das die Vormächte der «westlichen Wertegemeinschaft» über eine ihnen fremde Zivilisation gebracht haben. Dass die Kommunisten in Russland, China oder Kambodscha nicht minder blutig meuchelten, mag einigen Kalten Kriegern von einst als tröstliche Rechtfertigung ihrer eigenen Horrortaten dienen. Uns Heutige sollte das Geschehen, von dem wir durch ein Glück, für das wir nichts können, verschont wurden, mit Demut erfüllen. Der Krieg ist eine Bestie, und viele der in Vietnam mordenden US-Soldaten zogen als gottesfürchtige, an guten Schulen ausgebildete und mit allen Werten, die uns wichtig sind, ausgestattete junge Männer in die Schlacht. Sie durchlebten eine Hölle, die auch sie im Innersten vergiftete, in Besitz zu nehmen begann.

Heute ist Vietnam ein blühendes, enorm dynamisches Land. Die Wirtschaft wächst fiebrig. In der Innenstadt Saigons liegen die Quadratmeterpreise bei 40 000 Franken. Die Bewohner haben es geschafft, aus den Katastrophen des Krieges eine Goldgrube der Unabhängigkeit zu machen. Mit den Peinigern von einst, den USA und Frankreich, pflegen die pragmatischen, vorwärts blickenden Vietnamesen inzwischen besonders gute Beziehungen. Natürlich sind da noch viele Probleme, Machtgekungel unter den roten Mandarinen, Korruption, doch auch diese Geschichte ist ein Wunder. Sie sollte uns alle bescheiden machen und dankbar, dass wir so etwas nie durchzustehen hatten. Vietnam ist ein staatsgewordenes Manifest gegen den Krieg und für den Frieden. Nieder mit allen, die Kriege führen und predigen, die Bestie von der Kette lassen mit unabsehbaren Schreckensfolgen für alle. Setzen wir uns ein – für Frieden und Neutralität.

R.K.

Cover: Tomo Muscionico für die Weltwoche

Beginnen Sie mit der Eingabe und drücken Sie Enter, um zu suchen