Weltwoche Kommentar 17/21

Kommentar

Die Schweiz schwimmt sich frei

N

ein, die Schweizer haben nicht die besseren Politiker. Sie sind auch genetisch nicht im Vorteil. Sie haben einfach das bessere politische System.

Der Schweiz geht es besser, weil hier die Bürger das Sagen haben. Die Politik muss Rücksicht nehmen. Auf die Bevölkerung, auf die Kantone, auf die Wirtschaft.

Eben hat das amerikanische Biotech-Unternehmen Incyte eine Fabrik in Yverdon bauen lassen. Die Amerikaner wollen von dort aus die Welt mit Krebsmitteln beliefern.

Die Amerikaner sind nicht wegen der schönen Aussicht in die Westschweiz gekommen. Sie sind hier, weil in der Schweiz die Rahmenbedingungen besser sind.

Die Schweizer Rahmenbedingungen sind besser, weil sie die Schweizer selber gestaltet haben. Selbstbestimmung schlägt Fremdbestimmung. Seit Hunderten von Jahren.

Was für die Schweiz gut ist, wissen die Schweizer besser als Politiker in Berlin, Brüssel, Paris oder Bern. Hier bestimmen die Direktbetroffenen über alles, was sie direkt betrifft.

Gibt die Schweiz ihre einzigartige Staatsform auf, werden ihre Vorteile und Vorzüge verschwinden. Sie wird dann auch ihr Wohlstandsniveau nicht mehr halten können.

Das ist das entscheidende Argument gegen den «institutionellen Rahmenvertrag», den Schweizer Politiker fordern, die es gut zu meinen glauben.

Unter diesem Vertrag würden fortan nicht mehr die Schweizer, sondern EU-Funktionäre die Gesetze in der Schweiz bestimmen, aber nicht nur das.

Unter diesem Vertrag müsste sich die Schweiz europäischem Recht, europäischen Richtern, europäischen Sanktionen und europäischen «Guillotine»-Klauseln beugen.

Unter diesem Vertrag würde die Schweiz von einer selbständigen Demokratie zu einer Art Kolonie, zu einem Indianerreservat mitten in Europa.

Ein Beispiel: Heute braucht es in der Schweiz eine Volksabstimmung, wenn der Staat die Mehrwertsteuern lediglich um ein Zehntelprozent nach oben schrauben möchte.

Unter der Knute des institutionellen Vertrags könnte die Europäische Union der Schweiz höhere Mehrwertsteuern aufzwingen. Und noch mehr Zuwanderung.

Dieses EU-Abkommen wäre pures Gift für unser Land. Die Schweiz würde angedockt an eine fremde Rechtsordnung, deren Weiterentwicklung wir ohnmächtig übernehmen müssten.

Jetzt aber die gute, die beste Nachricht: Seit dem präsidialen Gipfeltreffen zwischen der Schweiz und der EU am letzten Freitag ist das institutionelle Rahmenabkommen tot.

Es ist zerschellt am Hartbeton von Missverständnissen, Meinungsverschiedenheiten und einer plötzlich pickelharten Schweizer Verhandlungsführung.

Staatssekretärin Livia Leu, die Chefunterhändlerin, soll den Bundesrat eindringlich gewarnt haben vor diesem Vertrag, der fast ausschliesslich im EU-Interesse sei.

Auch das ist ein Beleg für die unheimliche Genialität unserer Staatsform.

Das organisierte Chaos der Schweizer Politik produziert manchmal Entscheidungen und Vorgänge, die von den Regierenden gar nie beabsichtigt worden sind.

Ursprünglich war der Bundesrat mehrheitlich Feuer und Flamme für den EU-Vertrag. Am liebsten hätte er ihn in aller Stille durchgereicht.

Vielleicht glaubten die Magistraten tatsächlich, dass sie mit der institutionellen EU-Andockung der Schweiz einen Dienst erweisen würden.

Möglicherweise spielten unterdrückte Sehnsüchte nach einem doch noch irgendwie zu bewerkstelligenden Schweizer EU-Beitritt eine Rolle.

Allenfalls hatte es aber auch nur damit zu tun, dass Berns Politiker ihrem Erzfeind Christoph Blocher eins auswischen wollten, der als Erster vor diesem EU-Abkommen gewarnt hatte.

Man darf den Faktor Eitelkeit in der Politik nie unterschätzen. Die Etablierten hatten mit Blocher noch eine Rechnung offen nach dem EWR-Debakel vor bald dreissig Jahren.

D

och, o Wunder: Heute liegt das Rahmenabkommen in Trümmern. Nicht, weil weise Staatsführer auf einmal vom Licht der Erkenntnis geküsst worden wären.

Typisch schweizerisch kam der Widerstand von aussen, von unten. Er wurde immer grösser. Schliesslich konnte auch die Regierung den Druck nicht länger ignorieren.

Die Staatsform macht den Unterschied. Sie macht kluges Regieren auch gegen den ursprünglichen Willen der Regierenden möglich. Das ist die heimliche Pointe dieser Geschichte.

Natürlich ist es, wie immer in der Schweiz, noch nicht ganz ausgestanden. Das Parlament will den Tod des Abkommens nicht wahrhaben, ein verzweifeltes Zetern am Grab.

Die Politiker sollten loslassen. Das Ende des Rahmenvertrags ist nicht das Ende der Beziehungen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union. Es ist ein Neubeginn.

Ohne den Murks dieses institutionellen Korsetts wird die Bahn frei für bessere Verträge. Die Schweiz schwimmt sich frei. Irgendwie. Erneut. Es ist eine erfreuliche Nachricht.

R.K.

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