Weltwoche Kommentar 15/21

Kommentar

Sahra Wagenknecht ist interessant

N

och vor der Veröffentlichung ihres neuen Buchs toben die Shitstorms gegen die deutsche Linkspolitikerin Sahra Wagenknecht.

Das Getöse kommt nicht von rechts. Im Gegenteil. Auf bürgerlicher Seite erntet die Sozialistin oft Lob. Eisige Brisen wehen ihr von links entgegen.

Was ist der Grund? Wagenknecht hat ein neues Buch geschrieben. «Die Selbstgerechten» ist ein Wurf, eine schonungslose, kristallklar geschriebene Standortbestimmung linker Politik.

Wagenknecht analysiert den «Irrweg des Linksliberalismus» aus linker Sicht. Seine Anhänger entlarvt sie als «Lifestyle-Linke», die einem Kult der Überheblichkeit und der Überempfindlichkeit huldigen.

Die Linke habe sich von ihrem Auftrag entfernt. Sie setze sich nicht mehr für die Leute ein, die wirtschaftlich und sozial nach oben kommen wollen.

Im Gegenteil. Auf ihre einstigen Wähler aus der Arbeiterschaft blicke die «Lifestyle-Linke» arrogant herab. Kein Wunder, würden sie in Scharen zu den Rechten überlaufen.

Wagenknecht zerpflückt die linke Rede von einer angeblichen «rechten Leitkultur». Nicht die Stärke der Rechten, sondern die geschmäcklerische Intoleranz der Linken sei die Ursache für den linken Niedergang.

Wagenknecht fordert eine Rückbesinnung auf die Wirklichkeit. Sie findet, die heutige «Lifestyle- Linke» laufe den falschen, überschätzten, zum Teil abstrusen Themen hinterher.

Für die «Identitätspolitik» linker Jungakademiker hat sie vor allem Sarkasmus übrig. Die obsessive Beschäftigung mit Sprache und Geschlechterfragen sei ein Holzweg in die Bedeutungslosigkeit.

«Auf geradezu unterwürfige Weise» habe die «Lifestyle-Linke» auch die intellektuelle Hoheit der Grünen akzeptiert. Diese würden den linken Lifestyle-Typus «in Reinform» verkörpern.

Gegen solche Anbiederungen stellt Wagenknecht die Frage: Was könnte, was sollte die Linke von einem «aufgeklärten Konservatismus » lernen?

Das ist natürlich Sprengstoff in die linken Mainstream-Schrebergärten. Die vorauseilenden Allergiereaktionen einiger Parteikollegen bestätigen allerdings die Diagnosen der Autorin.

Wagenknecht ist der selten gewordene Fall einer linken Realistin. Sie hat auch keine Angst, über Tabus zu diskutieren. Das trägt ihr dann in Deutschland automatenhaft den Vorwurf ein, sie sei rechts.

Wagenknecht ist der selten gewordene Fall einer linken Realistin. Sie hat keine Angst, über Tabus zu diskutieren.

Das ist sie nicht. Wagenknecht steht links, weit links sogar. Sie fordert eine strenge Regulierung der Wirtschaft, ist für höhere Steuern, für Sozialausbau und weniger Globalisierung.

Auf der anderen Seite spricht sie sich für begrenzte Migration aus. Sie lobt den Nationalstaat als bis heute besten, vielleicht einzigen tauglichen Rahmen für Rechtsstaat und Demokratie.

Offene Grenzen und anständige Sozialleistungen schliessen sich aus, argumentierte der liberale US-Ökonom Milton Friedman. Wagenknecht würde dem Nobelpreisträger zustimmen.

Auch die heutige EU sieht sie nüchtern. Dem Traum einer europäischen Sozialunion erteilt sie eine Absage. Ein steriler Internationalismus werde die Leute nie begeistern.

Wagenknecht war schon vorher eine der interessantesten linken Politikerinnen Europas. Mit ihrem neuen Buch katapultiert sie sich noch einsamer an die Spitze der Debatten.

Und alle sollten es lesen. Die Linken, weil hier die intelligenteste deutsche Linke schreibt. Die Rechten, weil sie ihre Gegenargumente an Wagenknecht messen und schärfen können.

Die identitätspolitische Linke bezeichnete der französische Schriftsteller Michel Houellebecq in der Weltwoche einmal als verwundetes, in die Enge getriebenes Tier, das aus Verzweiflung und Schwäche aggressiv um sich schlage.

Das Bild passt zu der von Wagenknecht beschriebenen «Lifestyle-Linken». Diese mag die Rechten nerven, aber sie ist im Grunde ein leichter, weil weltfremder Gegner.

Wagenknecht ist von anderem Kaliber. Sie überlässt den Rechten nicht kampflos die Wirklichkeit. Sie spricht genau die Themen an, mit denen auch die Rechtsparteien bei den Leuten punkten.

Ihre Vorbilder sind, zum Beispiel, die siegreichen dänischen Sozialdemokraten unter Premierministerin Mette Frederiksen mit ihrer ultrastrengen Asylpolitik.

Sie hätte Freude gehabt am früheren Schweizer SP-Präsidenten Helmut Hubacher. Er sah den Aufstieg der SVP als Folge der linken Vernachlässigung migrationspolitischer Fragen.

Sahra Wagenknecht ist faszinierend im Gespräch, eine intellektuelle Herausforderung für die Bürgerlichen und eine Heimsuchung für die aus ihrer Sicht verirrten Linken.

Schade, dass wir in der Schweiz keine linke Politikerin haben, die nicht nur die Schwächen des eigenen Lagers durchschaut, sondern auch die gedanklichen Untiefen und Irrtümer ihrer rechten Gegner.

R.K.

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