Weltwoche Kommentar 14/22

Kommentar

Rotes Kreuz unter Beschuss

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as Internationale Komitee vom Roten Kreuz ist eine der glorreichsten schweizerischen Institutionen, sozusagen der helfende Arm unserer einst nicht minder glorreichen, inzwischen aber arg verbeulten staatlichen Neutralität. Gegründet in den Kriegen des 19. Jahrhunderts, ging das IKRK hervor aus einem internationalen Komitee für Verwundetenpflege. Es wurde zu einem weltweit hochgeachteten Stützpfeiler des humanitären Völkerrechts, der diplomatischen Konfliktentschärfung und der gelebten Fürsorge für die Kriegsversehrten.

Mich haben die IKRK-Leute immer beeindruckt als mutige Kämpfer für die ganz konkrete Verminderung von Leid und Elend auf der Welt. Ich gebe zu, dass ich die Details ihrer Arbeit zu wenig genau kenne, um ein fachmännisches Urteil darüber abzugeben, aber ich stelle hier einfach ab auf meinen persönlichen Eindruck aus zahlreichen Begegnungen. Alle IKRK-Delegierten, mit denen zu sprechen ich die Ehre hatte, haben mir gewaltig imponiert. Das waren keine pfauenhaften Weltverbesserer, sondern bodenständige Praktiker des Guten.

In einem grossartigen Aufsatz, den der deutsche Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger später als Buch herausbrachte, schildert der kanadische Publizist Michael Ignatieff die zentrale Qualität dieser Institution. Es ist ihre Neutralität, die aufs konsequenteste gelebte Nichtparteinahme selbst dann, wenn unser moralisches Empfinden dagegen rebelliert. Das IKRK müsse auch dem Teufel die Hand schütteln, wenn es erforderlich sei, um den Opfern eines Kriegs zu helfen. So ungefähr, erinnere ich mich, zitiert Ignatieff einen berühmten Vertreter.

Neutralität ist immer erklärungsbedürftig. Sie versteht sich nicht von selbst, weil dem Menschen seine Gedanken und Gefühle dauernd im Weg stehen. Konfrontiert mit Krieg und Unrecht, regt sich unsere Seele, bäumt sich unser Gewissen auf, Partei ergreifend, tobend und verurteilend – umso lauter und schriller, je weiter und ohnmächtiger wir dem Grauen gegenüberstehen. Bei den IKRK-Leuten schien es mir stets umgekehrt: Wer dem Bösen wirklich ins Auge blicken, wer den Abgrund hinuntersteigen, durchs Blut waten muss, strahlt Ruhe aus, hält sich zurück, vermutlich auch deshalb, weil er die Welt, um sie zu einem menschenfreundlicheren Ort zu machen, so nehmen und akzeptieren muss, wie sie ist.

Es ist kein Zufall, dass sich das Schweizer Staatswappen und die IKRK-Flagge zum Verwechseln ähnlich sehen. Und es ist bezeichnend für unsere verrückte, moralismusverseuchte, kriegerische Zeit, dass sich nicht nur die Schweiz, sondern auch das IKRK ausgerechnet in ihrer herausragendsten Qualität, der Neutralität, herausgefordert, ja regelrecht angefeindet sehen. Im Fall des IKRK zeigt sich das anhand konkreter Angriffe auf den Roten-Kreuz-Ableger in der umkämpften Hafenstadt Mariupol unter anderem durch Medien und, wie mir ein Botschafter sagte, durch ukrainische Ultranationalisten. Sie werfen dem IKRK-Chef Peter Maurer einen Handschlag samt Lächeln mit dem russischen Aussenminister Lawrow vor. Die Ukrainer fordern ein nicht mehr neutrales IKRK, das nur noch den Guten, also ihnen, hilft.

Peter Maurers IKRK steht für das stille Heldentum unserer neutralen Schweiz.

Zu Recht wehren sich Maurer und seine Leute gegen diesen irregeleiteten Versuch einer politischen Vereinnahmung durch eine kriegführende Partei. Gut möglich allerdings, dass sich die Ukrainer in ihrem Sturmlauf gegen das Rote Kreuz auch durch den Schweizer Bundespräsidenten Ignazio Cassis ermutigt fühlen, der die Unüberlegtheit begangen hatte, im Beisein von Amtskollegin Simonetta Sommaruga auf dem Berner Bundesplatz an der Seite «meines Freundes Wolodymyr» Selenskyj für die Sache der Ukraine zu demonstrieren. Ohne diesen nach der vollständigen Übernahme der antirussischen EU-Sanktionen auch symbolhaft bekräftigten Neutralitätsbruch eines Schweizer Staatsoberhaupts wäre das IKRK wohl kaum derart unter Beschuss geraten.

Täuscht der Eindruck, oder sind die ukrainischen Übergriffe auf das Rote Kreuz geeignet, auch einigen Politikern in Bern wieder die Augen zu öffnen, den Blick zu schärfen für den Wert unserer staatlichen Neutralität, den sie unter dem Druck der Gefühle, der Banken und der Amerikaner vergessen hatten? Bei Bundespräsident Cassis sind erfreuliche Symptome der Besinnung zu erkennen. Trotz den extrem verstörenden Bildern aus dem Kiewer Vorort Butscha hatte der Aussenminister die Kraft, Zurückhaltung zu üben und am Grundsatz der Unschuldsvermutung auch im Angesicht mutmasslicher Kriegsverbrechen festzuhalten. Cassis hat recht, wenn er sagt, dass es weder Politikern noch Medien zusteht, anhand von Ferndiagnosen Urteile zu fällen, sondern einzig und allein den Richtern an den zu diesem Zweck erfundenen Kriegsverbrechertribunalen nach geregelten Verfahren.

Neutralität ist kein moralisches Gebot des Gewissens, sondern eine institutionelle Errungenschaft unserer Zivilisation. Neutralität, wie sie das IKRK vorlebt, ist, philosophisch gesprochen, der Vorrang der Verantwortungsethik vor der Gesinnungsethik. Nicht die Absichten, die Resultate zählen. Es geht nicht darum, gut und «unbefleckt » zu scheinen, «auf der richtigen Seite» zu stehen, sondern in einer bösen Welt das Gute zu tun, auch wenn man sich die Hände dabei schmutzig macht. Unter dem Eindruck des Ukraine- Kriegs, dauerbedröhnt von Medienpropaganda, ist die Schweizer Politik in die Gesinnungsethik abgerutscht, hat sie die Neutralität verletzt. Wir geben die Hoffnung nicht auf, dass die Schweizer alles, was sie selber ausgerenkt haben, auch wieder einrenken können. Peter Maurers IKRK steht für das stille Heldentum unserer neutralen Schweiz. Möge sich die politische Schweiz an diesem Vorbild wieder aufrichten. Ein kleiner Anfang scheint gemacht.

R.K.

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