Weltwoche Kommentar 13/21

Kommentar

Das Impfdebakel heisst Alain Berset

W

enn sich die Nebel der gegensätzlichen Stellungnahmen über der letztjährigen schweizerischen Covid-Impfgeschichte etwas lichten, zeigt sich ein Bild des Grauens: Alain Berset, oberster Gesundheitsverantwortlicher der Schweiz, hat die Möglichkeit verpasst, alle Impfwilligen der Schweiz von Januar bis April 2021 durchzuimpfen. Dies wäre möglich geworden, hätte Berset das Angebot von Lonza- Präsident Albert M. Baehny akzeptiert.

Dieser offerierte Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga (die davon nichts erfuhr) und Bundesrat Berset schriftlich eine eigene «Impfstrasse » zur Produktion des Moderna-Vakzins. Bersets Kapitalfehler war, dass er dieses sensationelle Angebot nicht zur Chefsache machte. Er reichte es ans Bundesamt für Gesundheit (BAG) weiter und hielt es für unnötig, den Gesamtbundesrat zu orientieren. Selbst nach einem persönlichen Telefongespräch mit Baehny liess Berset danach anscheinend nichts mehr von sich hören.

Um diese Unterlassung zu vertuschen und Berset zu schützen, hat SP-Präsident Cédric Wermuth einen Vorstoss eingereicht, der den Staat zur Herstellung medizinischer Güter ermächtigen will. Dies wäre ein Irrweg, denn der Staat hat seine Unfähigkeit bei der Beschaffung von Masken, Schutzkleidern und Impfdosen schon zur Genüge bewiesen. Dies war auch nicht die Idee von Lonza-Präsident Baehny. Er zeigte in seinem Schreiben vom 14. April mit dem Titel «Möglichkeit für die Schweiz, eine führende Rolle im Kampf gegen Covid-19 zu übernehmen» sowie im anschliessenden Treffen mit BAG-Verantwortlichen vom 1. Mai 2020 eine vielversprechende Vision auf: Unser Land solle bei der Lonza in Visp eine Produktionsstrasse übernehmen. Kosten: 60 Millionen Franken für 100 Millionen jährlich produzierte Impfdosen.

Wenn Berset und seine Leute heute behaupten, Baehny habe nicht ohne Einwilligung der Moderna Verträge mit dem Bund abschliessen können, ist dies zu kurz gedacht. Alles im Leben ist verhandelbar – abgesehen vom Tod. Es hätten sich zweifellos international erfahrene Manager, Juristen und Unterhändler gefunden, um mit dem geldhungrigen damaligen Start-up Moderna ins Geschäft zu kommen. Alain Berset verpasste hier die Chance seines Lebens. Und dies zu einem Zeitpunkt, als viele Schweizer über den zukunftsweisenden mRNA-Impfstoff und damit die goldene Zukunft dieser Firma Bescheid wussten und Aktien kauften. Wenn der Bund das Risiko der 60 Millionen gescheut hat, hätte er mit einigen Anrufen bei Schweizer Familienunternehmen und Stiftungen Geld auftreiben können. Und selbstverständlich hätte Berset mit den zusammengetrommelten Unternehmern nicht nur die Produktion sichern müssen, sondern gleichzeitig Roche und Novartis beauftragen können, Verpackung und Verteilung zu organisieren. Was die Spanier und Belgier können, sollte der Schweiz nicht misslingen.

Berset erhielt das Angebot einer Pole-Position beim Impfen, doch er hat es prompt vergeigt.

Doch Berset hatte kein Interesse. Wollte der Gesundheitsminister keinen Sonderweg ohne die EU beschreiten? Verdunkelte ihm seine ideologische Aversion gegen den amerikanischen Präsidenten den klaren Blick auf den vom Weissen Haus massiv geförderten Moderna- Impfstoff? Hinderte ihn sein Internationalismus daran, in erster Linie im Interesse der eigenen Bevölkerung zu handeln?

Bei der Finanzierung des Lockdowns haben im Frühling 2020 das Finanzdepartement, die Nationalbank und die Grossbanken eindrucksvoll gezeigt, wie man rasch und unbürokratisch effiziente Lösungen findet.

Gewiss, die richtige Impfstrategie war anspruchsvoller. Traurig bleibt es trotzdem: Die Verantwortlichen haben eine riesige Chance vertan. Sie erhielten das Angebot einer Vorzugsbehandlung, einer Pole-Position – und haben es prompt vergeigt. Statt genügend Impfstoff für lediglich 8,5 Millionen Menschen zur Verfügung zu haben, tröpfeln die Impfdosen jetzt in zermürbender Langsamkeit ins Land. Bereits verschiebt Berset frühere Impfversprechen nach hinten und vertröstet die Jüngeren auf den Sommer. Spätestens, wenn sie dann mangels Impfung nicht in die Ferne reisen dürfen, verlieren die Schweizer die Geduld mit Berset und seinem Gesundheitsapparat.

Hätte der Gesundheitsminister bei Albert Baehnys patriotischem Vorschlag zugegriffen und mit der Moderna verhandelt, wären bis Ende März wohl mehr als 20 Millionen Impfdosen ausgeliefert worden. Die nicht benötigten Stoffe hätten wir der EU verkauft oder an Entwicklungsländer verschenkt – beides kein unerheblicher Prestigegewinn für die Schweiz. Doch Bundesrat Berset hat das einmalige Angebot nicht erkannt und schon gar nicht zur Chefsache gemacht. Baehny als «ehrlicher Makler» kann sich höchstens vorwerfen, damals nicht bei anderen Bundesräten insistiert oder den Gang in die Medien gewagt zu haben. Alain Berset muss sich die Frage stellen, ob er der richtige Mann am richtigen Ort ist.

Wenn sich gegenwärtig sogar die Blätter von Tamedia kritisch mit Bersets Lonza-Unterlassungen auseinandersetzen, so sind gerade sie kaum die Richtigen. Am 25. Mai 2020 kritisierte der Tages-Anzeiger den steigenden Aktienkurs von Moderna. Im Streit, ob die USA oder die Schweiz zuerst mit Impfstoff beliefert werde, zeige sich ein «befremdliches Nationalstaatendenken ». Und weiter: «Nicht nur Donald Trump versucht alles Mögliche, um ‹America first› mit einer Impfung zu versorgen.» Seine «nationalistische, protektionistische Politik» habe auch hier ihre Anhänger. Doch der Streit um die ersten Impfdosen sei verfehlt. Statt Trumps USA und Moderna – so der Tages-Anzeiger damals – suche die Schweiz «besser nach anderen Partnern».

R.K.

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