Weltwoche Kommentar 12/24

Kommentar

Die Schweiz ist grossartig

Die Geschichte der Freiheit
ist die Geschichte des Widerspruchs.
Woodrow Wilson,
Präsident der Vereinigten Staaten
Demokratie ist die Freiheit, nein zu sagen.
Schweizerisches Sprichwort
D

ie Welt dreht durch. In der Ukraine herrscht Krieg. Die Vereinigten Staaten versinken in der politischen Selbstzerfleischung. Die Europäische Union avanciert zum Gesinnungsgefängnis der Besserwisser und der nicht gewählten Funktionäre. In Deutschland ist soeben eine sechzehnjährige Schülerin von der Polizei verhört worden, weil sie auf Tiktok ein Video mit Schlümpfen schaltete.

Die Welt war immer schon ein riskantes Gelände. Derzeit vibrieren die Nerven wieder einmal heftig. Für die gute alte Schweiz kann die Devise nur lauten: freundliche Distanz nach allen Seiten, keine Experimente, am Bewährten festhalten. Neutralität und Weltoffenheit über alles. Es ist kein Zufall, dass unsere Eidgenossenschaft seit bald 733 Jahren einer immer wieder vom Wahnsinn, vom Menschen umtosten Umwelt trotzt.

Wo alle streiten, kriegen, sich in den Haaren liegen, sollte man sich nicht einmischen. Der Mensch ist kein friedliches Tier. Er neigt zu Missverständnissen und Irrtümern. Seine Tragik liegt darin, dass ihn seine besten Absichten oft ins Elend, in den Abgrund führen. Wir neigen dazu, unsere Einbildungen, Wünsche, Obsessionen, Zwangsvorstellungen für die Wirklichkeit zu halten.

Seit Jahrzehnten zermartern sich die Schweizer das Hirn über ihre Beziehungen zur Europäischen Union. Eigentlich wäre alles ganz einfach: Man könnte sich einigen auf gute, gleichberechtigte Beziehungen intensiver Zusammenarbeit in wechselseitiger Unabhängigkeit. Aus Gründen, die uns hier nicht zu interessieren brauchen, passt das der EU nicht. Sie will mehr. Sie will Geld. Und sie will bestimmen können in der Schweiz.

Die EU ist ein Sehnsuchtsort für Politiker. Alle sind für alles, niemand ist für etwas verantwortlich. Hinter protzenden Glaspalästen regiert die Intransparenz. Da fühlen sich viele Politiker wohl. Sie geniessen die grosse Bühne, das europäische Machtgefühl in der relativen Anonymität des Brüsseler Labyrinths. Die im Dunkeln sieht man nicht. Kein Wunder, fühlen sich auch unsere Leute in Bern fast magisch davon angezogen.

Die EU begann als Friedensprojekt. Heute ist sie ein Kriegsbündnis. Frankreichs Präsident Macron will Nato-Bodentruppen gegen Russland schicken. In Deutschland schwelgen die Grünen, die Liberalen, die CDU in fiebrigen Eskalationsfantasien. Nur noch der Kanzler wehrt sich – wie lange noch? – gegen die Lieferung hochzerstörerischer Marschflugkörper vom Typ Taurus, die den Kreml treffen könnten.

Je weniger die Schweiz an sich denkt, desto nützlicher wird sie für die Welt.

Da darf die Schweiz nicht mitmachen. Nie und nimmer darf sie sich in diese EU hineinziehen lassen, die selber institutionell alles andere als gefestigt ist und deren führende Mitgliedstaaten Frankreich und Deutschland auch wirtschaftlich zurückfallen. Mit dem Niedergang einher geht eine Brutalisierung der Innenwie der Aussenpolitik. Die EU setzt auf Zensur und Ausgrenzung. International tritt sie überheblich auf.

Die EU ist heute ein Aussenposten amerikanischer Interessen. Der geopolitische Bedeutungsverlust hat sich seit dem Einmarsch der Russen in der Ukraine noch verschärft. Anstatt als Brückenbauer zwischen Ost und West zu wirken, klammern sich die grossen EU-Staaten mit Brüssel wie Ertrinkende ans übersteigerte Selbstbild eines «Wertewestens», der seine Ansprüche gebieterisch, doch zusehends machtlos vertritt.

Denn die Welt verändert sich. Die ehemaligen Kolonien der Europäer sind zu wirtschaftlichen Supermächten aufgestiegen. Die «multipolare Ordnung» ist kein Hirngespinst. Die starren Fronten des Kalten Kriegs sind dahin. Es ist der Westen, der Mühe hat, mit dieser neuen Wirklichkeit zurechtzukommen. Der Aufstand gegen die Realität jedoch wird scheitern. Wir steuern, unweigerlich, auf eine Welt der Vielfalt zu.

Die Schweiz sollte sich darauf einstellen. Ihre Ausgangslage wäre ideal. Als neutrales, unabhängiges und damit freies Land spielt sie eine Universalität aus, um die sie alle Völker dieser Welt beneiden. Gewiss, die Neutralität ist beschädigt, viele Politiker und Medien liebäugeln mit der EU. Doch diese Schwierigkeiten lassen sich meistern. Möglicherweise bringt die allgemeine Unsicherheit die erprobten Tugenden zurück.

Den Euro-Enthusiasten dient neuerdings der Ukraine-Krieg als Hebel für eine engere institutionelle Anbindung der Schweiz an die EU. Da draussen sei es so gefährlich, dass man sich unter Brüssels Schutzschirm flüchten müsse. Welcher Schutzschirm? Erstens ist die EU militärisch schwach. Zweitens macht sich eine an die EU angedockte Schweiz erst recht zur Kriegspartei. Richtig ist das Gegenteil: zurück zur Neutralität.

Je weniger die Schweiz an sich denkt, desto nützlicher wird sie für die Welt. Politiker, die dauernd an ihrer Bedeutung herumstudieren, sind bedeutungslos. Die Neigung, bei der EU oder bei der Nato mitzumachen, hat auch mit Minderheitskomplexen zu tun, mit dem «Unbehagen im Kleinstaat», das der Germanist Karl Schmid bei Schweizer Intellektuellen schon vor sechzig Jahren diagnostizierte.

Man muss das abstreifen. Die Schweiz ist nicht perfekt, aber sie ist auf ihre Weise grossartig. Ihre Staatsform ist ein Naturwunder der Geschichte. Sie soll mit allen Staaten freundliche Beziehungen pflegen. Aber sie darf sich nicht aufgeben. In der Schweiz bestimmen wir Schweizer selber über alles, was uns selbst betrifft. Unabhängigkeit. Das ist das schlichte, kostbare Geheimnis unseres Erfolgs.

R.K.

Cover: IanDagnall Computing/Alamy; Bildbearbeitung: Wieslaw Smetek für die Weltwoche

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