Weltwoche Kommentar 12/22

Kommentar

Der Sündenfall, der keiner ist

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er Frühling hat begonnen. Ich weiss es genau, denn seit 57 Jahren feiere ich am 21. März meinen Geburtstag. Frühling heisst Ausstieg aus dem Winter, Wiedergeburt, pulsierende Körpersäfte, Schmetterlinge überall und die Hoffnung darauf, dass irgendetwas Neues anfängt, das hoffentlich besser ist als das, was hinter uns liegt.

Als Frühlingskind bin ich Optimist, bekennender Antimelancholiker, obschon auch mich Anflüge von gelegentlichem Trübsinn heimsuchen, zum Beispiel jetzt, beim Lesen der Zeitungen oder beim Einschalten der «Tagesschau ». Die Nachrichten sind finster genug, doch fast mehr noch irritiert mich der schrille Moralistenton, in dem sie vorgetragen werden.

Die Leser der Weltwoche wissen, dass ich unter Moralismus den Missbrauch von Werten und Ereignissen aus egoistischen Motiven verstehe. Der Moralist redet von der Moral, aber er meint sich selbst. Der Moralist will nichts Gutes tun. Es geht ihm nur darum, gut zu scheinen. Moralisten lieben es, andere herabzusetzen. Auch deshalb ist Moralismus unmoralisch.

Das wirksamste und beste Buch gegen die Seuche des Moralismus ist die Bibel. Dieses vor Tausenden von Jahren verfasste Monumentalwerk ist neben vielem anderen auch das ehrlichste Buch, das je über die menschliche Natur geschrieben worden ist. Hier begegnen wir dem Menschen in seiner ganzen, formvollendeten Himmeltraurigkeit – an der wir aber trotzdem nicht verzweifeln müssen.

Keine Angst, ich gehöre nicht zu jenen Hobbytheologen, die in der Bibel eine Art Valium fürs Gemüt erblicken. Auch teile ich nicht den weitverbreiteten Irrtum, man müsse die Bibel lesen, um ein besserer Mensch zu werden. Es mag helfen, aber entscheidend ist etwas anderes: Die Bibel ist genial, weil sie uns schonungslos darüber aufklärt, wer wir sind: schrecklich, aber liebenswürdig.

Das für mich aktuell lehrreichste Bibelgleichnis ist der Sündenfall. Hier hat sich der Moralismus bereits in die Übersetzung eingeschlichen wie die Schlange ins Paradies. Offenbar kommt in der hebräischen Urfassung das Wort «Sünde» gar nicht vor. Das haben priesterliche Tugendbolde erst viel später eingefügt – um die Leser moralisch, Pardon: moralistisch zu verziehen.

Dem leider verstorbenen Pfarrer Gerhard Blocher, Bruder des gleichnamigen Politikers, verdanke ich den Hinweis, dass die Geschichte des Sündenfalls gemäss hebräischem Ursprungswortlaut nicht von der Sünde, sondern von der «Täuschung des Menschen» durch die Schlange handelt. Es ist eine Geschichte, die wie kaum eine andere das Drama unserer Zeit und unserer Existenz verdeutlicht.

Nein, lautet die Botschaft der Bibel, der Mensch kann nicht sein wie Gott

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orum geht es? Gott hat die Erde geschaffen, den ersten Menschen, Adam, nach seinem Ebenbild, aus Adams Rippe geschnitten Eva, die Frau, die dem Mann Helferin sein soll, aber auch erste Kritikerin. Gemeinsam leben die beiden wohlbehütet, nackt im Paradies, wo es ihnen an nichts fehlt. Gott hat ihnen lediglich verboten, sich am Baum der Erkenntnis von Gut und Böse zu verköstigen.

Dann schleicht sich die Schlange ein. Woher sie kommt, warum sie Gott überhaupt geschaffen hat, bleibt unbekannt. Sie ist der Mephisto, der Verführer, Wortverdreher, Überbringer der ersten Fake News der Geschichte. Nein, Gott habe Unsinn erzählt, flüstert die Schlange Eva ins Ohr. Sie solle ruhig vom Baum der Erkenntnis essen, dann «werden eure Augen aufgetan, und ihr werdet sein wie Gott».

Die Versuchung ist übermächtig, die Frau wird schwach und mit ihr der Mann. Als Gott die Freveltat bemerkt, verstecken sich die beiden erst im Garten und versuchen dann, ertappt, sich windig herauszureden. Adam beschuldigt die Frau, «die du mir zugesellt hast», und die Frau beschuldigt die Schlange. Es ist die menschliche Urszene schlechthin: Verantwortlich ist immer der andere.

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ie Geschichte der «Täuschung des Menschen », gemäss Blocher moralisierend fehlübersetzt als die Geschichte vom «Sündenfall », handelt davon, wie die Menschen von Anfang an dem falschen Versprechen, der ewigen Versuchung der Selbstvergottung erliegen. «Ihr werdet sein wie Gott», zischelt die Fake- News-Schlange, «und wissen, was gut und böse ist.»

Nein, lautet die Botschaft der Bibel, der Mensch kann nicht sein wie Gott, und wenn er es trotzdem versucht, dann endet sein Streben in erhabener Lächerlichkeit. Adam steht buchstäblich mit abgesägten Hosen da. Notdürftig umgürtet mit Feigenblättern, verkriecht er sich im Gebüsch, blamiert bis auf die Knochen, ein schöner «Gott», der da zum wahren Gott hochdrängt.

Das Gleichnis kann aber auch gelesen werden als Mahnung an alle jene, die sich einbilden, ganz genau Bescheid zu wissen, wer die Guten und wer die Bösen sind. Immer wieder versteigen sich die Menschen, vor allem in ihrer Eigenschaft als Politiker, Journalisten oder Intellektuelle, zur irrigen Meinung, sie seien im Besitz einer überlegenen Moral. Pure Anmassung, entnehmen wir der Bibel.

Jeder Mensch hat seine moralischen Urteile, gewiss, aber das sind Glaubenssätze, subjektive Überzeugungen, flüchtig, voller Fehler. Nur Gott «weiss», kann gültig entscheiden, was gut und böse ist, wer die Guten und wer die Bösen sind. Wir Menschen sind verurteilt, moralisch im Nebel zu tappen, und wenn wir glauben, es ganz sicher zu wissen, liegen wir mit Sicherheit falsch.

Hütet euch vor den Moralisten, lehrt die Bibel. Die Geschichte des «Sündenfalls», die Erzählung von der Anmassung des Menschen und seiner Täuschung durch die Fake-News-Schlange, ist das Gleichnis unserer Zeit.

R.K.

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