Weltwoche Kommentar 12/21

Kommentar

Freundliche Beziehungen zu China

D

er wichtigste Grundsatz der Schweizer Aussenpolitik ist die Neutralität. Neutralität heisst, dass man keine Kriege anfängt und auch nicht bei den Kriegen Dritter mitmacht.

Neutralität heisst zweitens, dass sich die Schweizer Regierung generell zurückhält, stillsitzt. Auf keinen Fall mischt sich die Schweiz in die inneren Angelegenheiten fremder Staaten ein.

Ohne die Neutralität gäbe es die Schweiz nicht mehr. Es hätte sie innerlich zerrissen in den konfessionellen Bürgerkriegen des 17. Jahrhunderts.

Oder sie wäre draufgegangen in den beiden Weltkriegen des letzten Jahrhunderts. Der Neutralität verdanken wir unser Leben. Und unseren Wohlstand.

Neutralität ist immerwährend und bewaffnet, oder es ist keine Neutralität. Neutralität ist nicht Trittbrettfahren, sondern ein Privileg der Freiheit, wehrhafte Unabhängigkeit.

Und mehr noch: Die Neutralität ist das völkerrechtliche Siegel unserer Weltoffenheit. Der neutrale Staat hat keine Feinde. Die ganze Welt ist seine Chance, sein Markt.

Früher standen die Bundesräte pickelhart zur Neutralität. Der freisinnige Solothurner Wirtschaftsvorsteher Walther Stampfli sagte während des Zweiten Weltkriegs:

«Mich interessiert es gar nicht, was unsere Nachkommen sagen werden. Mich interessiert vielmehr, was die heutige Generation dazu sagen würde, wenn sie keine Kohle und nichts zu essen hätte.»

Neutralität ist anspruchsvoll. Sie erfordert Rückgrat. Man muss Abstand halten können, zu den Bösen, aber besonders zu den Guten, die einen auf ihre Seite ziehen wollen.

Und sehr böse werden können, wenn man sich nicht auf ihre Seite schlägt.

Die Neutralität ist seit Jahren, eigentlich immer, unter Druck. Von innen. Politiker ertragen sie nicht. Sie ist ein Hindernis. Sie hindert sie daran, Gutes zu tun, bei den Guten zu sein.

Noch nie war es wichtiger, die Neutralität zu verteidigen. Die Welt ist nicht mehr eingefroren im Kalten Krieg. Die politische Klimaerwärmung produziert neue Mächte, neue Fronten.

Die geopolitische Vielfalt erzeugt Spannungen. Viele Grossmächte reiben sich aneinander.

Mich interessiert, was die heutige Generation sagen würde, wenn sie keine Kohle und nichts zu essen hätte.

Die globale Situation erinnert an das Machtblock- Europa des 19. Jahrhunderts.

Die Schweiz muss sich draussen halten. Sie darf sich die Konflikte der anderen nicht zu eigen machen. Wenn es rasselt und gurgelt auf der Welt, ist neutrale Distanz überlebenswichtig.

Man muss es aber auch durchziehen. Es gibt keine Neutralität à la carte. Neutralität, die Aussenpolitik des freundlichen Abstandhaltens, verlangt vom Bundesrat Disziplin.

Und ja, natürlich geht es beim Überleben um die Wirtschaft. Die Schweiz ist zu klein, zu arm. Die Schweiz braucht die Welt, sonst verarmt die Schweiz.

Wer die Neutralität verachtet, wer sie als Feigheit des «Gschäftlimachers» verunglimpft, hat nichts verstanden. Neutralität ist die Weisheit des Kleinstaats unter Grossmächten.

Jetzt ist die Neutralität akut in Gefahr. Die Medien, die Linken greifen an. Sie fordern eine aggressive «China-Strategie». Die Schweiz soll zum Oberlehrer für Menschenrechte werden.

Der Bundesrat knickt teilweise ein. Mit seiner neuen «China-Strategie» prangert er die Chinesen an und hofft, die Linken im Parlament durch Entgegenkommen auszubremsen.

Cassis will es allen recht machen und verärgert alle. Die Linken legen nach. Die Chinesen sind bereits brüskiert. Zu Recht. Die Schweiz hat ihnen einen Gesichtsverlust beschert.

Der Schweizer Staat ist keine Moral-Anstalt. Er hat sich nicht in chinesische Angelegenheiten einzumischen. Wir wollen auch nicht, dass die Chinesen sich bei uns einmischen.

In der EU blasen sie zum Sanktionskrieg gegen China. Die Chinesen sanktionieren zurück. In Bern denken sie tatsächlich darüber nach, sich an diesem Wahnsinn zu beteiligen.

Auf gar keinen Fall!

Aussenpolitik ist nicht Gesinnungspolitik. Aussenpolitik ist Realpolitik. Neutralität ist das bewährte Gebot des aussenpolitischen Realismus für die Schweiz.

Das Letzte, was die Schweiz jetzt braucht, ist Ärger mit China. Tausende von Arbeitsplätzen stehen auf dem Spiel. Zweistellige Exportmilliarden drohen wegzubrechen.

Der Bundesrat sollte seine antineutrale «China- Strategie» schleunigst beerdigen.

Die Schweiz braucht freundliche Beziehungen mit der ganzen Welt, auch und gerade mit China.

R.K.

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