Frauen regieren die Welt
eine Mutter war gegen das Frauenstimmrecht. Sie sagte, unser Vater stimme sowieso so ab, wie sie es ihm sage. Mein Bruder und ich, glauben wir uns zu erinnern, hielten dagegen: «Mami, du spinnst.»
Ich war sechs Jahre alt, als das Frauenstimmrecht eingeführt wurde. Warum eigentlich dauerte es so lange in der Schweiz? Auf der Anklagebank sitzen die Männer.
Fragen wir mal anders: Warum haben sich die Frauen durch die Männer so lange ausbremsen lassen? Wieso erkämpften sie sich das Schweizer Stimmrecht nicht früher?
Weiterlesen auf eigene Gefahr.
Falsch ist die Erklärung, die man heute am häufigsten hört: Die Männer hätten sich verschworen, um die Frauen unten zu halten. Die bösen Männer gegen die armen Frauen. Der Irrtum des Jahrhunderts.
Wer behauptet, die Schweizer Männer, und nur die Schweizer Männer, hätten den Frauen das Wahl- und Stimmrecht verweigert, überschätzt die Schweizer Männer. Und unterschätzt die Schweizer Frauen.
Ich schreibe mich hier um Kopf und Kragen.
All die Berichte, all die Kommentare, die dem Schweizer Mann die Alleinschuld für das verspätete Frauenstimmrecht geben, sind zu korrigieren. Sie blenden die Rolle der Frau aus.
Das ist überheblich. Das ist diskriminierend. Das ist frauenfeindlich.
Ich behaupte: Die Frauen hatten kein Stimmrecht, weil es sie es nicht wollten. Es war ihnen egal. Hätten sie es früher gewollt, wirklich gewollt, sie hätten es bekommen.
Ich bin längst ein toter Mann.
Zugegeben: Ich habe nicht den geringsten Beweis für meine Theorie.
Trotzdem bin ich überzeugt, dass sie zutrifft. Männliche Intuition. Das gibt es.
Die gängige Opfertheorie besagt: Frauen sind das schwache Geschlecht. Männer haben das Kommando. Alle beten es allen andern nach.
Ich habe diesen Unsinn nie geglaubt.
Die Wahrheit ist: Frauen sind das starke Geschlecht. Sie bekommen die Kinder. Sie halten unaussprechliche Schmerzen aus. Sie kultivieren die Männer. Sie stehen am Ursprung jeder Zivilisation.
Nach dem Zweiten Weltkrieg waren es die Frauen, die Deutschland aus den Trümmern wiederaufbauten. Die Männer waren tot, im Gefängnis oder betrunken.
Niemand ahnt, was Männer den Frauen über Jahrhunderte angetan und was die Frauen an Grausamkeiten überlebt und irgendwie verkraftet haben. Eine schwächere Spezies wäre ausgestorben, längst.
In der Antike hatten die Frauen kein Frauenstimmrecht. Aber sie hatten die Macht. Sie zwangen Herrscher in die Knie, entfesselten Kriege und stoppten sie wieder. Sie brachten Feldherren und Könige um den Verstand.
Die härtesten Männer, die es je gab, die Spartaner, knickten wachsweich ein, als ihnen ihre Frauen den Sex verweigerten.
Es war der vermutlich wirksamste Streik in der Geschichte der Menschheit.
Marc Anton liess seine Legionen im Stich, als er seine geliebte Kleopatra davonsegeln sah.
Oder nehmen wir Shakespeare, die ewige Wahrheit der Literatur: Der umjubelte General Othello verfällt in Wahnsinn und Raserei aus unbegründeter Eifersucht wegen seiner Desdemona.
Männer machen alles, leisten, komponieren Lieder, dichten Romane, ruinieren ihre Gesundheit beim Sport, nehmen Drogen, zetteln Kriege an, schliessen Frieden, bauen Kathedralen auf, Weltkonzerne, trinken, drehen durch, morden, werfen ihre Karrieren und ihre Unternehmen weg, alles für die Frauen. Die härtesten Kerle kapitulieren vor ihrer Macht.
Männer bilden sich ein, Frauen zu erobern. Manche glauben es wirklich. Es ist ein schöner, etwas lächerlicher Irrtum. Frauen lassen sich nicht erobern. Sie beobachten, sie geben Zeichen, sie wählen aus. Wer sich durch Ausdauer und andere Eigenschaften, auf die wir hier nicht einzugehen brauchen, auszeichnet, kommt ans Ziel.
Frauen sind uneinnehmbare Festungen. Aber gelegentlich lassen sie die Zugbrücke herunter, wenn der richtige Glücksritter, innerlich verzweifelt, an den Mauern kratzt.
Frauen sind nicht schwach, sie sind stark. Sie sind nicht auf männliche Erlösung angewiesen. Seit Jahrhunderten machen sie Weltgeschichte, diskret, oft aus dem Hintergrund, dafür umso wirkungsvoller. Während sich die Männer vorne aufplustern.
Frauen regieren die Welt.
Hätten die Schweizer Frauen das Stimmrecht früher haben wollen – glaubt mir –, sie hätten Mittel und Wege gefunden. Kein Mann, kein Müller, kein Meier hätte sie stoppen können.
Warum also haben die Frauen so lange damit gewartet?
Ganz einfach.
Sie verzichteten, aus freien Stücken. Es war ihnen gleichgültig, wer unter ihnen die Politik erledigt. Die Schweiz galt als Demokratie, aber eigentlich war sie eine Monarchie der Frauen.
Die Frauen sagten den Männern, wie sie sich zu kleiden, wie sie sich zu ernähren, wie sie zu leben, zu geschäften und wie sie zu wählen oder abzustimmen hätten. Die Männer gehorchten. Aus Liebe. Oder um den Hausfrieden nicht zu gefährden.
Kein König gibt freiwillig sein Szepter ab. Es ist besser, indirekt zu herrschen, als selber in den Ring zu treten. Trotzdem stiegen die Frauen, vor exakt fünfzig Jahren, von ihrem Thron herunter.
Oder machten die Männer einfach nicht mehr mit? Nie werden wir erfahren, ob die Frauen, hätten sie denn abstimmen dürfen, für das Frauenstimmrecht gestimmt hätten.
Vielleicht war alles nur eine tückische List, ein Trick der Männer, die Monarchie der Frauen durch Gleichstellung zu brechen. Der Versuch einer Entmachtung, getarnt als Geschenk.
Mit dem Frauenstimmrecht ersetzten die Männer die Monarchie der Frauen durch das gleichberechtigte Gerangel in den Schlammgräben der Politik.
Man kann darin einen Fortschritt sehen. Vermutlich ist es einer. Aber hört mit dem frauenfeindlichen Märchen auf, die Frauen seien das Opfer, Zaungäste eines Schicksals, das Männer bestimmen. Diese Geringschätzung haben die Frauen nicht verdient.
R.K.