Weltwoche Editorial 51/52/19

Editorial

Ikone der Undankbarkeit

Von Roger Köppel

Warum uns Greta Thunberg daran erinnert, wie wichtig es ist, dankbar zu sein.

Die bemerkenswerteste Aussage dieses Jahres stammt von der Klimaaktivistin Greta Thunberg. Es war ihre bebende Anklagerede vor dem Uno-Klimagipfel in New York am 23. September. Vom Blatt las die vor Zorn regelrecht vibrierende sechzehnjährige Schwedin jene Sätze ab, die sich flugs ins kollektive Bewusstsein eines weltweiten Publikums einbrannten: «Wie könnt ihr es wagen! [. . .] Ihr habt meine Träume, ihr habt meine Kindheit gestohlen mit euren leeren Worten.» Die Brandrede richtete sich gegen die im Plenum versammelten Erwachsenen. Sie seien durch Nachlässigkeit in der Klimapolitik im Begriff, den Planeten auszulöschen. Die Repräsentativjugendliche Greta prangerte stellvertretend für alle die Generation ihrer Eltern an. Es war der brachiale, verstörende Urschrei eines Teenagers, der im Grunde jenen, die ihn gezeugt haben, vorwirft, sie hätten ihm sein Leben geraubt.

Als Vater von vier Kindern ärgerte mich die Greta-Rede nicht deshalb, weil ich die politischen Prämissen und Schlussfolgerungen der grünen Apokalypse ablehne. Ich lehne sie ab, aber das war nicht der Grund der Irritation. Mich ärgerte zunächst die absolut selbstzentrierte, ichsüchtige Undankbarkeit dieses Mädchens, das hier die ältere Generation so masslos in den Senkel stellte. Greta schien nicht eine Sekunde daran zu denken, dass die Welt, auf der sie in übrigens privilegierten Verhältnissen aufwachsen durfte, das Werk ebendieser und früherer Generationen ist, gegen die sie nun so hasserfüllt vom Leder zog. Natürlich ist Greta nur ein Teenager, und Teenager zeichnen sich nun einmal dadurch aus, dass sie selbstzentriert und ichsüchtig sind. Die fürchterliche Feindseligkeits-Intensität ihres Auftritts war gleichwohl aussergewöhnlich. Und zeittypisch. Wir leben in undankbaren Zeiten, und Greta ist die Ikone dieser Undankbarkeit.

Gespenstisch war der weltweite Jubel, der angesichts der Hassrede aufbrandete. Die gleichen Leute, die von Greta beleidigt wurden, zeigten sich hocherfreut, ja begeistert darüber, dass sie eben von diesem Mädchen auf das heftigste belästert worden waren. Wie Masochisten, die unter Peitschenhieben lustvoll aufstöhnen, schienen sie geradezu beglückt von den bitteren Tiraden. Ich will vorausschicken, dass ich nichts gegen Umweltschutz habe oder gegen protestierende Jugendliche. Ich kann sogar die Klagen Gretas ein Stück weit nachvollziehen, da ich selber einmal, unter dem Eindruck des Waldsterbens, Exkursionen nach Osteuropa machte, um mich vor Ort über den Stand des Weltuntergangs in Gestalt weisser Baumleichen zu informieren. Das alles kann ich verstehen, fremd aber, ja geradezu unheimlich bleibt mir die kollektive Vergötterung dieses Mädchens, das seine Umweltsorgen zur Kriegserklärung an die Generation ihrer Erzeuger hochschraubt.

Das Beispiel der Undankbarkeits-Ikone Greta ruft in Erinnerung, wie wichtig und schnell vergessen die Tugend der Dankbarkeit ist. Ich rede jetzt nicht einfach davon, dass man sich nach einem Geschenk oder einem Gefallen artig bedankt. Es geht mir auch nicht um die Art von Dankbarkeit, die man nach einem geglückten Geschäft oder Kauf empfindet, wenn beide Seiten profitieren konnten. Dankbarkeit ist etwas Grundsätzlicheres, etwas Existenzielles, ist eine Haltung, eine Lebenseinstellung, ohne die eine Gesellschaft auf Dauer nicht bestehen, nicht überleben kann. Der deutsche Soziologe Georg Simmel nannte die Dankbarkeit in einer schönen Formulierung einmal «das moralische Gedächtnis der Menschheit». Damit meinte er, dass jede «Vergesellschaftung» auf der «Weiterwirkung der Beziehungen über den Moment ihres Entstehens hinaus» beruhe. Die Dankbarkeit, schrieb Simmel, sei ein «lyrischer Affekt». Durch ein «tausendfaches Hinund Herweben innerhalb der Gesellschaft» werde die Dankbarkeit zu einem ihrer «stärksten Bindemittel».

Dankbarkeit, vor allem Dankbarkeit gegenüber früheren Generationen, gegenüber unseren Eltern, Grosseltern, Vorfahren und all jenen, dank denen unsere Vorfahren ihr Leben bestreiten konnten, ist für Simmel der «fruchtbare Gefühlsboden», ohne den es keine Gesellschaft, kein Zusammenleben, keine Solidarität geben kann. Dankbarkeit schafft Bindung, schafft Verbindung, ist «Verbundensein » mit dem, was war, mit dem, was ist, aber auch mit dem, was noch kommen wird. Man ist seinen Eltern dankbar dafür, dass man überhaupt lebt, ohne selber etwas dafür getan zu haben. Man ist aber auch dankbar für all die Hervorbringungen und Errungenschaften früherer Generationen, ohne deren Opfer, Leistungen und Erkenntnisse sich das eigene Leben trotz aller Mühsal und ungelösten Problemen noch viel schwieriger und widriger gestalten würde. Dankbarkeit ist der Gemütsgrundzustand des Menschen, wenn er es geschafft hat, über sich hinauszuempfinden.

In der Dankbarkeit schwingen Respekt und Demut gegenüber dem Gewordenen mit. Dankbarkeit ist das Bewusstsein, dass das Leben ein Geschenk ist und auch eine Verpflichtung, das Beste aus dem Geschenk zu machen. Logisch zwingend ist Dankbarkeit die Absage an ein revolutionär umstürzlerisches, sagen wir ruhig: autistisches Tabula-rasa- Denken, das alles wegpfaden will, was sich einem auf dem Weg zur totalen Selbstverwirklichung entgegenstellt. Die Greta-Fans huldigen diesem aggressiven Autismus, diesem Jugend-Kult im Namen der Weltuntergangsvermeidung, der sich jetzt auch im Berner Bundeshaus anschickt, die Verhältnisse umzupflügen. Halten wir dagegen: Dankbarkeit ist Bescheidenheit, ist vor allem die Einsicht, dass meine persönlichen Sorgen, Hoffnungen und Meinungen nicht das Mass aller Dinge sind. «Dankbarkeit», wusste schon Cicero, «ist nicht nur die grösste aller Tugenden, sondern auch die Mutter von allen. » Wer dankbar ist, entkommt dem Kerker seines Ichs. Dankbarkeit, nicht Eigennutz ist der Kitt, der unsere Gesellschaft zusammenhält.

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