Weltwoche Editorial 48/19

Editorial

Jean-Claude Juncker

Von Roger Köppel

Sein Körpereinsatz konnte die EU-Widersprüche nicht auflösen.

Niemand bestreitet, dass die EU ursprünglich ein nobles und vielleicht notwendiges Unterfangen war. Verwüstet nach zwei grauenhaften Weltkriegen, rauften sich die grossen europäischen Staaten zusammen, um sich gemeinsam aus den Trümmern zu erheben.

Von Beginn weg allerdings mischte sich ein allzu hoher Ton in die ehrenwerten Bestrebungen. Natürlich war die EU, die damals noch anders hiess, ein «Friedensprojekt». Doch den Frieden hatten nicht die Europäer bewerkstelligt, sondern vor allem die Russen und die Amerikaner. Der eigene Mythos ist mit ein Grund, warum es der EU bis heute so schwer fällt, ein realistisches Bild von sich selber zu entwickeln.

Trotzdem: Das neue, sich nicht mehr bekriegende Europa schaffte bedeutende Leistungen. Die Deutschen kehrten respektiert auf die Bühne zurück. Die Franzosen blieben auf dem Papier eine Grossmacht. Die europäischen Staaten des ehemaligen Ostblocks fanden in der EU Unterschlupf und Schutz vor der früheren Sowjetunion. Es entstand einer der grössten grenzübergreifenden Märkte. Das ist viel, doch heute strebt die EU nach mehr: Sie will, in einer merkwürdigen Rückwärtsvolte in unheilvolle europäische Traditionen, wieder ein weltpolitischer Machtfaktor sein.

Wandelnde Verkörperung dieser europäischen Widersprüche zwischen volksnahem Friedensprojekt und elitärem Machtblock ist der nun abtretende EU-Kommissions-Präsident Jean-Claude Juncker. Der lustigselbstironische Luxemburger surfte während fünf Jahren mit grosser Heiterkeit über die Klüfte und Gräben hinweg, aus denen die Europäische Union inzwischen besteht. Er war die Galionsfigur eines ehrgeizigen politischen Unternehmens, dessen Sachwalter ahnen, wenn auch zu verdrängen versuchen, dass ihnen die politische Legitimität, also der Zuspruch der Basis, zusehends entschwindet.

Die Europäische Union ist an einer Wegscheide angelangt. Das von ihren Gründern noch mit heimlicher Euphorie lancierte Projekt eines dereinstigen Superstaats im Stile der Vereinigten Staaten von Europa ist längst der nüchternen Einsicht gewichen, dass die europäischen Völker nicht bereit sind, ihre gewachsenen Identitäten auf dem Altar einer bürokratisch vollzogenen Gleichmacherei zu opfern. Die Idee eines «postnationalen» Übernationalstaats, der den herkömmlichen Nationalstaat überwinden soll, hat sich als Illusion erwiesen, der keine Mehrheit zu folgen bereit ist.

Die EU ist an einem toten Punkt. Alle sehen es, aber kein EU-Politiker ist bereit, es sich einzugestehen.

Stattdessen gilt: so tun, als ob. Juncker trat an, um die EU wieder demokratischer, bürgernäher, freundlicher, weniger abgehoben und im Wortsinn fassbarer zu machen. Sein bevorzugtes Führungsinstrument war sein Körper, eine Art Allzweckwaffe zur überfallartigen Herstellung von Intimität durch Umarmungen und Küsse, die er befreundeten und auch weniger befreundeten Politikerkollegen angedeihen liess. Junckers handgreifliche Annäherungen sollten das Bild einer freundschaftlich- verbindlichen EU abgeben, die von alters her unter dem leider berechtigten Vorurteil leidet, steril, kalt und unpersönlich zu sein.

Sosehr sich Juncker bemühte: Sein Körpereinsatz konnte die inhärenten Konstruktionsfehler der EU nicht übertünchen, geschweige denn zum Verschwinden bringen. Unter seiner Führung brachen die Probleme erst so richtig durch, besonders während der Migrationskrise von 2015, als auch dem letzten wohlwollenden Betrachter klarwurde, dass nach der serbelnden Gemeinschaftswährung Euro nun auch das Konzept einer gemeinschaftlichen Flüchtlings- und Grenzkontrollpolitik nicht funktionierte. Das waren nicht oberflächliche Krisen, sondern Symptome tieferliegender Probleme. Die Völkerwanderung war die sichtbare Folge eines institutionellen Fehlkonstrukts, in dem alle für alles verantwortlich sind, aber niemand für etwas.

Juncker musste seine Ziele verfehlen, weil er gegen Kräfte anrannte, die grösser sind als er: Unter seiner Leitung nabelten sich die Briten von der EU ab. Die Polen und Ungarn, eigentlich glühende Europäer, gingen zu Brüssel auf Distanz. Erstmals in der deutschen Nachkriegsgeschichte eroberten EU-kritische Politiker den Bundestag. Überall in Europa schossen Parteien aus dem Boden, die gegen den Euro und die EU auf die Barrikaden steigen. Und selbst mit der kleinen Schweiz, die er angeblich mag, schaffte es Juncker nicht, seinen Plan eines institutionellen Rahmenabkommens durchzubringen. Die letzten EU-Parlamentswahlen waren für den Kommissionspräsidenten ein Debakel.

Juncker entsprach nie dem Feindbild, das rechte Politiker von ihm an die Wand malten. Trotzdem gelang es ihm nicht, die Zeitzeichen richtig zu lesen. Anstatt die EU-Kritik von unten ernst zu nehmen, verbunkerte er sich in einer arroganten Rhetorik wie sein glückloser Vorgänger José Manuel Barroso, ein ehemaliger Maoist, der seinen ideologischen Unfehlbarkeitsanspruch bis zum Schluss nie ablegte. Nach dieser Lesart waren EU-Kritiker gefährliche «Populisten» und «Nationalisten», also Holzköpfe, mit denen man nicht redete. Indem sich auch Juncker aufs hohe Ross setzte, befeuerte er nur die Kräfte, die er doch eigentlich bekämpfen wollte.

Sein grösster Fehler war die Sturheit vor dem Brexit. Anstatt den Briten entgegenzukommen, schickte er den damaligen Premier wie einen ungehörigen Schulbuben nach Hause. Gegen alle Anfechtungen verteidigte er das hochumstrittene Prinzip des freien Personenverkehrs, das den Brexit überhaupt entfacht hatte. Doch auch die freiheitsliebenden Schweizer blieben ihm fremd. Juncker bezeichnete sich als Freund der Eidgenossen. Trotzdem setzte er ausgerechnet einen Österreicher aufs heikle EU-Dossier an, was die ohnehin schon ungeliebte EU noch mehr Sympathien kostete. Solche Instinktfehler waren doch erstaunlich für einen Politiker, der als besonders gspürig gelten wollte.

Persönlich nett und sogar einnehmend, scheiterte Juncker so an seiner unmöglichen Aufgabe: Er versuchte der EU einen Anschein von Bodenständigkeit und Volksnähe zurückzugeben, die sie genau genommen nie hatte. Er wird in Erinnerung bleiben als das freundliche Gesicht eines Europa, von dem sich immer mehr Europäer abwenden.

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