Weltwoche Editorial 47/19

Editorial

Die grösste List

Von Roger Köppel

Was die linken Grünen und die rechte AfD verbindet.

So viel Selbstverzicht, so viel Demut war nie. Die Schweizer Grünen bringen es einfach nicht übers Herz, nach ihrem triumphalen Wahlerfolg einen klaren Anspruch auf einen Bundesratssitz zu formulieren. Mal wollen sie, dann wieder nicht. Dann doch. Man tänzelt, man ziert sich, man kokettiert.

Auch die deutschen Grünen eiern herum. Kanzlerschaft? Ja oder nein? Und wenn, dann wer? Sie tun sich schwer. Die beiden Co-Chefs Robert Habeck und Annalena Baerbock sind so voller Selbstvergessenheit damit beschäftigt, den jeweils anderen in den Himmel hochzuloben, dass die Kraft wohl nicht mehr reicht, die Kanzlerfrage zu entscheiden. Die Doppelspitze ist das organisatorische Sinnbild der gewollten Führungsschwäche.

Aber auch rechts sieht es nicht viel besser aus. Die allseits angefeindete AfD ist noch autoritätsfeindlicher als die deutschen Grünen. Die Rechten haben nicht nur zwei, sie haben drei Chefs – ein «gäriger Haufen», der zwar das Land, aber nicht selber führen will. Muss man vor einer Partei Angst haben, die sich derart vor der eigenen Macht versteckt?

Erstaunlicherweise finden die Medien Politiker sympathisch, die so tun, als gehe es ihnen um alles, nur nicht um die Macht. Habeck ist in Deutschland ein Superstar. Auch in der Schweiz wählen die meisten Journalisten Grün. Der geschmeidige Ironiker Moritz Leuenberger, einst SP-Bundesrat, war in der Schweiz der bejubelte Pionier. Er hielt feinsinnige Reden und zelebrierte seinen angeblichen Degout vor der Macht, von der er sich dann partout nicht trennen wollte.

Zwar machte er sich auch darüber lustig, doch am Schluss musste er aus seinem Bundesratsbüro fast herausgetragen werden. Je augenfälliger sich ein Politiker von der Macht distanziert, desto inniger liebt er sie. Die heissesten Bundesratskandidaten in Bern sind immer noch die, die ihre Absicht, Bundesrat zu werden, am lautesten dementieren. Wer falsche Fährten legt, vernebelt den Blick bei denen, die ihm gefährlich werden könnten.

So tun, als ob. Was wir hier beobachten, ist nicht ein Schauspiel des Altruismus, nicht die Geburt einer neuen politischen Bescheidenheit. Es ist das dritte Gesetz der Macht, das der Bestsellerautor Robert Greene in seinem Buch «Power» einmal so beschrieb: «Halten Sie Ihre Absichten stets geheim. Lassen Sie die Leute im Dunkeln tappen. Enthüllen Sie nie den Zweck Ihres Handelns. Wenn die anderen keine Ahnung haben, was Sie vorhaben, können sie sich nicht auf die Verteidigung vorbereiten.»

Allerdings: Politiker, die sich vor der Macht drücken, sind aus Sicht des Wählers unbrauchbar. Entweder sie scheuen sich wirklich, dann sollten sie den Vortritt jenen überlassen, die Verantwortung übernehmen wollen. Oder sie tun nur so, als ob sie nicht wollten, dann stimmen die Motive nicht. Politiker, die nur zum Schein die Macht verweigern, streben die Macht an, aber niemand soll es merken. Das sind Machiavellisten, denen die Macht über alles geht, Machtnarzissten, die ein falsches Bild von sich vortäuschen.

In der Attitüde der Grünen schwingt das alte sozialistische Erbe mit. Die Sozialisten traten an, die Macht und den Staat im irdischen Paradies des befreiten Proletariers zu überwinden. Die Losung «Alle Macht dem Kollektiv » sollte alle Herrschaftsverhältnisse endgültig über den Haufen werfen. Am Ende waren alle gleich, doch einige gleicher, und aus der Unordnung schälte sich der fürchterlichste, weil sich selber verleugnende Despotismus heraus. Unsichtbare Macht wird unkontrollierte, wird totale Macht.

Politiker, die um die Macht herumtänzeln; Parteien, die auf eine klare Führung verzichten; Mehrfachspitzen und politische Jobsharing-Modelle stehen bei den Medien Beispiel, wie Machtwille und diffuse Führungsstrukturen Hand in Hand gehen. Die AfD-Verantwortlichen loben sich dafür, dass sie auf eine klare Spitze verzichten. Die Partei sei noch jung, man habe kein Bedürfnis nach eindeutigen Hierarchien. Klingt gut. In Wahrheit drückt sich die Partei um einen klaren Kurs. Sie will sich nicht festlegen. Mit drei Köpfen hofft man wohl, mehr Wähler anzusprechen. Macht geht vor. Sollte nicht die Sache dominieren? Gleichzeitig gibt die AfD vor, ein klares, verbindliches Programm zu haben. Warum braucht sie dann drei Chefs?

Da und dort wird Unmut laut. Der linke Schweizer Politologe Michael Hermann ärgert sich allmählich über die links-grüne Koketterie. Im Tages-Anzeiger rechnet er vor, dass bei den letzten Wahlen ein Linksrutsch von historischem Ausmass stattgefunden habe. Um so unverständlicherweise sei es, dass sich die Linken und die Grünen in die «politische Defensive» hätten drücken lassen.

Haben sie das wirklich? Oder kokettieren sie nur? Ist der grösste Machtwille der, der sich am besten verbirgt? Der spanische Jesuit und Hochschullehrer Baltasar Gracián (1601–1658) fasste das, was uns heute beschäftigt, in einen hellen Sinnspruch: «Man darf dich nicht für einen Betrüger halten, auch wenn man heute nicht leben kann, ohne einer zu sein. Deine grösste List muss sein, zu verbergen, was als List erscheint.»

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