Weltwoche Editorial 45/19

Editorial

Volk ohne Heimat

Von Roger Köppel

Die Deutschen haben ihren eigenen Untergang überlebt und Grossartiges geleistet. Die Wiedervereinigung gelang bewundernswert, doch mit der Mauer fielen alte Sicherheiten. Die Deutschen wirken verwirrt, etwas verloren zwischen nationalen Tönen aus dem Osten und europäischen Selbstzweifeln im Westen.

Vor dreissig Jahren fiel die Mauer. Deutschland hat sich wiedervereinigt. Entgegen landläufigen Befürchtungen kam es nicht zum Rückfall in Nationalismus und Machtbetrunkenheit. Trotz erheblichen Schwierigkeiten hat es die Bundesrepublik geschafft, den bankrotten Trümmerhaufen DDR zu verdauen. Das ist das Verdienst der westdeutschen Steuerzahler, aber auch die Leistung der Ostdeutschen, die das Schockprogramm einer drastischen Aufwertung bewundernswert klaglos über sich ergehen liessen.

Nichts war damals weniger selbstverständlich. Noch 1987 orakelte der berühmte Historiker und Publizist Sebastian Haffner, eine deutsche Wiedervereinigung komme frühestens in fünfzig Jahren. Und ihr werde ein «Blutbad » vorausgehen. Nichts dergleichen geschah. Deutschlands europäische Nachbarn, aber auch viele Deutsche hatten Angst vor der neuen deutschen Grösse. Frankreichs Präsident Mitterrand sagte, er liebe Deutschland so sehr, dass es davon nicht genügend geben könne. Der Zweite Weltkrieg lag erst vier Jahrzehnte zurück.

Kraftakt im Zeichen der Gemütlichkeit
Das Kunstwerk der Beschwichtigung gelang dem Wendekanzler Helmut Kohl. Den Franzosen versprach er den Euro. Die Briten lockte er mit Nato-Gelöbnissen. Die Russen hatte er mit der Versicherung ins Boot geholt, es werde keine Ausdehnung des westlichen Verteidigungsbündnisses an die russischen Grenzen geben. Es war ein historischer politischer Kraftakt im Zeichen der Gemütlichkeit. Dass die Russen heute nicht so amüsiert in Richtung Westen schauen, hat auch damit zu tun, dass man einzig ihnen gegenüber die feierlichen Zusagen brach. Insgesamt ist Deutschland ein Phänomen der Tüchtigkeit, ein Überlebenswunder. Die Deutschen waren die Architekten ihres Untergangs, den sie schliesslich überwanden. 1945 lag das Land in Trümmern. Schon 1961 hatten sie die Briten an Wohlstand überholt. Das war ironischerweise auch deshalb möglich, weil der alles wegräumende Bombenkrieg den Deutschen die Chance einer umfassenden industriellen Modernisierung gab, während die Siegermächte Frankreich und Grossbritannien auf ihren unzerstörten rostenden Fabriken sitzenblieben.

Zur Niederlage kam die Schande: Nach der Katastrophe von Hitlers nationalem Grössenwahn durften die Deutschen nicht mehr Deutsche sein. Also halfen sie mit, die EU zu erfinden, um dann als Europäer, entgiftet, auf die Bühne zurückzukehren. Seither ist das vereinigte Europa, im Westen, für die Deutschen eine Art Vaterlandsersatz. Das erklärt ihre fast religiöse Bereitschaft, Unmengen an Geld in dieses Projekt zu investieren, das viele Deutsche zwar längst als Fehlkonstrukt durchschauen, für das sie aber trotzdem weiterzahlen, weil es ein unverzichtbarer Bestandteil ihres Wesens und kein alternatives Identitätsangebot in Sicht ist.

Ein Rest Selbstmisstrauen
«Wir schaffen das»: Angela Merkels umstrittener Slogan während der Flüchtlingskrise ist wahrer, als ihren Kritikern lieb ist. Die Deutschen haben tatsächlich alles geschafft. Sie meisterten die Hyperinflation und zwei Weltkriege, weltweite Verfemung, die Aufarbeitung ihrer eigenen Verbrechen. Dann legten sie eine Währungsreform und ein Wirtschaftswunder hin. Sie leisteten sich den Luxus, die abgeschaffte Arbeitslosigkeit wiedereinzuführen durch Sozialreformen in den siebziger Jahren. Mit Unsummen halten sie die Europäische Union am Leben, und es ist ihnen fast problemlos gelungen, die deutsche Wiedervereinigung zu finanzieren.

Das Land tut sich schwer mit der Vervielfältigung des Parteienspektrums.

Die grösste deutsche Leistung aber ist die Installierung einer stabilen Demokratie. Niemand zweifelt heute an der Solidität der Bundesrepublik und ihres Rechtsstaats. Die politische Erfolgsgeschichte der BRD ist zum Teil auch eine Widerlegung der These, dass der Absturz in Diktatur und Verbrechen während der Hitlerzeit Ausfluss eines innersten deutschen Unwesens gewesen sei. Die letzten 75 Jahre beweisen oder legen wenigstens die Vermutung nahe, dass die Deutschen nicht genetisch umcodiert werden mussten, um sich in einer pluralistischen demokratischen Staatsordnung zurechtzufinden. Demokratie und Deutschland sind keine Gegensätze mehr.

Trotz allem: Ein Rest Selbstmisstrauen bleibt. Niemand beäugt die Deutschen kritischer als die Deutschen. Ein Volk ist sich unheimlich. Die kritische Distanz ist angesichts der Geschichte nachvollziehbar. Gleichwohl wünscht man den Deutschen zu dreissig Jahren Mauerfall etwas mehr Gelassenheit. Die jüngsten Debatten sind schriller und verkrampfter, als sie sein müssten. Das Land tut sich schwer mit der Vervielfältigung des Parteien- und Meinungsspektrums. Vor allem der Zuwachs von rechts löst Ängste aus, wird aber auch politisch hysterisiert von Parteien, die lieber den Gegner anschwärzen, als an der Qualität ihrer eigenen Programme zu arbeiten.

Hitler-Keulen vs. Hitler-Dogmen
Die Folge ist eine Inflation des Nazi-Vorwurfs. Die angeschlagene Linke, vor allem die darniederliegende SPD, bewältigt den Stress ihres Niedergangs mit anschwellender Aggressivität gegen alles, was rechts der Mitte unterwegs ist. Leider spielen die Medien, mehrheitlich links, mit auf der Klaviatur der sterilen Empörung. Zielscheibe sind längst nicht mehr nur die Abgeordneten der rechtsbürgerlichen AfD. Mittlerweile trifft die Hitler-Keule auch unbescholtene Ex-Minister wie Thomas de Maizière, einen braven Gefolgsmann der Kanzlerin, die den Aufstieg der Rechten ermöglichte, indem sie ihre CDU zu stark nach links verschob. Kann man in Deutschland noch sagen, was man denkt? Ja, sicher, doch mit der neuen Vielfalt steigen die Empfindlichkeiten. Deutschland ist heute ein offeneres, vielstimmigeres Land als noch vor zehn Jahren. Einstige Tabuthemen sind inzwischen Teil der offiziellen politischen Debatten. Selbst linksliberale Organe wie die Zeit kommen nicht darum herum, die von ihnen zunächst glorifizierte Migrationspolitik der Kanzlerin kritisch zu durchleuchten. Das ist Ausdruck einer Normalisierung. Deutschlands politische Öffentlichkeit rückt nach der Linksverschiebung der Merkel-Ära wieder etwas nach rechts. Das geht nicht ohne Getöse auf allen Seiten ab.

Vieles verflüssigt sich. Dabei lösen sich skurrilerweise auch altbewährte Tabus auf. Die Nachkriegsdeutschen im Westen wurden mit dem Dogma erzogen, Hitlers Regime und dessen Untaten seien singulär, unvergleichbar, absolut einzigartig im Bösen. Das schlimmste geistige Vergehen stellte in Deutschland bis vor kurzem die Relativierung der hitlerschen Verbrechen dar. Ironischerweise werfen heute die gleichen Deutschen, die früher unnachgiebig auf die Einhaltung des Singularitätsdogmas gepocht haben, mit «Nazi»-Vorwürfen nur so um sich. Ohne es zu merken, relativieren und verharmlosen die fleissigen Nazi-Jäger die einzigartige Bösartigkeit der Nazis, deren Unvergleichbarkeit sie doch so engagiert gefordert haben. Die Gralshüter der Korrektheit verirren sich im Dschungel ihrer Denkverbote.

Zwei deutsche Identitäten
Auf einer etwas tieferen, ernsthafteren Ebene allerdings ist die Auseinandersetzung um die aufstrebende AfD ein interessanter Streit um die deutsche Identität. Wer sind wir? Was ist Deutschland? Diese Frage hat sich seit dem Mauerfall verkompliziert. Vorher war es klar: Die Westdeutschen hatten die EU als Ersatzvaterland. «Postnationalismus » lautete das Gebot der Stunde. Der deutsche Nationalstaat verschwand, angeblich für immer, auf der Sondermülldeponie der deutschen Geschichte.

Die Gralshüter der Korrektheit verirren sich im Dschungel ihrer Denkverbote.

Im Osten sollten die Deutschen kollektiv zu Kommunisten umerzogen werden, doch die Sowjetunion wurde ausserhalb der profitierenden Funktionärselite wohl nie als Heimat akzeptiert. Kam hinzu, dass eine Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit mit ihrem hypertrophen NS-Nationalismus in der «antifaschistischen » DDR als unnötig beiseite geschoben wurde. Was im Westen wiederum nachhaltiges Misstrauen erzeugte.

So prallen seit dem Mauerfall zwei deutsche Identitäten aufeinander: Die europäische Ersatz- Identität der Westdeutschen kollidiert mit der tiefgekühlten Sehnsucht vieler Ostdeutscher. Sie wünschen sich nach vierzig Jahren Sowjetunion «ihr» Deutschland zurück; nicht das Deutschland Hitlers, aber auch nicht das postnational desinfizierte EU-Deutschland des Westens.

Natürlich flirren in der ostdeutschen Gefühlswelt auch nationalistische Giftgase mit, die unter der Eisdecke des Sozialismus eingefroren waren. Das rechtfertigt aber nicht den pauschalen Nazi-Vorwurf an die neuen Bundesländer. Die Ostdeutschen sind internationalsozialistisch geschädigt. Deshalb haben sie ein unverkrampfteres Verhältnis zum Reizwort «national» als die Westdeutschen, die sich alles Nationale ausgetrieben haben.

Noch ist keine Versöhnung in Sicht. Die europäisierten Westdeutschen, auch in der AfD, reagieren höchst allergisch auf die nationalen Parolen aus dem Osten. Die Irritationen sind grösser als üblich, weil das Nationalwollen der Ostdeutschen auf Verunsicherung und wachsende EU-Skepsis im Westen trifft. Das kriselnde Ersatzvaterland löst nicht mehr automatisches Vertrauen aus. Die Unsicherheit produziert Gehässigkeit.

Umgekehrt sehen sich viele Ostdeutsche fundamental missverstanden. Auch sie haben recht. Was sie als den Versuch einer Rückerlangung ihrer deutschen Heimat in Freiheit nach vierzig Jahren kommunistischer Heimatlosigkeit empfinden, trägt ihnen aus dem Westen Nazi-Vorwürfe ein. Mittlerweile verbunkern sich beide Lager in ihrem gegenseitigen Missverständnis.

Solange sie aneinender vorbeireden, bleiben die Deutschen ein Volk ohne Heimat: Im Osten wollen sie den Nationalstaat zurück, den es nicht mehr gibt. Im Westen zweifeln sie am Vaterlandsersatz EU, der den Nationalstaat hätte überwinden sollen. Und kein Politiker ist in Sicht, der willens und imstande wäre, den Krampf zu lösen.

Mehr Geschichte, weniger Physik
Wohlverstanden: Deutschland ist vielfältiger und demokratischer denn je. Mehr Vielfalt, mehr Demokratie heisst aber auch: mehr Meinung, mehr Diskussion, mehr Auseinandersetzung, mehr Streit. Mehr Normalität. Das muss man aushalten. Nicht jeder, der sich mehr Deutschland und weniger EU wünscht, ist ein Nazi. Deutschland taut auf, seit dreissig Jahren. Die alten Politkartelle brechen ein. Freiheitliche Impulse kommen aus dem Osten. Das ist gut so. Verkraften es die Westdeutschen?

Die bewegliche Machtphysikerin Angela Merkel betrieb ihre Politik lange Zeit klug als gefühlsfreie Fortsetzung der Naturwissenschaft mit anderen Mitteln, das Ohr jeweils dicht am Puls statistisch ermittelter Mehrheiten. Gut möglich, dass jetzt bald ein Kanzler, eine Kanzlerin gefragt sein werden, die mehr von Geschichte als von Physik verstehen.

Die faszinierende Aufgabe wird es sein, den nationalen Freiheitsdrang der Ostdeutschen ins europäische Ersatzvaterland der Westdeutschen einzuschmelzen. Es geht um Nuancen, nicht um ein Entweder-oder. Eine neue Balance ist gesucht. Wie viel EU ist sinnvoll, wie viel nationale Eigenverantwortung darf es sein? Die Deutschen können sich der Debatte stressfrei stellen. Das Ergebnis wird ein besseres Deutschland sein. Und eine bessere EU.

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