Weltwoche Editorial 41/19

Editorial

Anstrengendste Staatsform

Von Roger Köppel

Warum eigentlich sind so viele Politiker für das EU-Abkommen?

An einer meiner Veranstaltungen hat mich ein Zuschauer gefragt, warum so viele Parteien und Politiker für das institutionelle Rahmenabkommen mit der EU seien. Der Zuschauer teilte im Übrigen meine Meinung: Die Schweiz dürfe diesen Kolonialvertrag keinesfalls unterschreiben. Das Rahmenabkommen sei die Zerstörung der bilateralen, gleichberechtigten Beziehungen und würde die direkte Demokratie, die Volksrechte in weiten Teilen unserer Gesetzgebung ausser Kraft setzen.

Mit diesem Vertrag wäre die Schweiz ein Untertanengebiet, eine Art Passivmitglied der Europäischen Union. Wir müssten zwar die Regeln der EU übernehmen, könnten aber bei ihrer Gestaltung nicht mitentscheiden. Wie könne man als Schweizer Politiker nur für so einen schlechten Vertrag sein?

Die Erklärung ist einfach: Mehr EU bedeutet mehr Macht für die Politiker, weniger Macht fürs Volk. Die EU ist eine Institution, in der die Politiker viel und die Bürgerinnen und Bürger wenig zu sagen haben. Darum sind so viele Politiker für die EU.

Die Schweiz ist das Gegenteil der EU: Bei uns sind die Bürgerinnen und Bürger oberster Verfassungsgeber, sind sie der Chef. Kein Gesetz, kein Verfassungsartikel, kein Zehntelprozent einer Mehrwertsteuererhebung kann ohne die Zustimmung des Volks beschlossen werden.

Die direkte Demokratie ist für Politiker die anstrengendste bekannte Staatsform, weil sie die Freiheit des Politikers begrenzt, um stattdessen die Freiheit, die Macht und den Einfluss der Bürgerinnen und Bürger zu erweitern.

Die Schweiz gilt als freiheitlicher, als liberaler Staat. Das ist richtig, aber man muss fragen: Freiheit für wen? Nordkorea ist aus Sicht seines Diktators auch ein freier Staat, allerdings ist dort nur einer frei: der Diktator. In der Schweiz ist es umgekehrt: Nicht die Mächtigen, die Politiker sind frei, sondern die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger steht zuoberst. Die Direktbetroffenen entscheiden über alles, was sie direkt betrifft. Für diese einzigartigen Volksrechte wird die Schweiz weltweit bewundert.

Man muss sich allerdings von der Illusion lösen, dass die direkte Demokratie in der Schweiz eine Herzensangelegenheit der Politiker gewesen sei. Das Gegenteil ist der Fall. In der Regel waren die politischen Eliten gegen diese Staatsform, sie fürchteten und dämonisierten die direkte Demokratie.

Alfred Escher, der grosse Zürcher Unternehmer und Freisinnige, ein wichtiger Architekt der modernen Schweiz im 19. Jahrhundert, nannte die direkte Demokratie abschätzig «Pöbelherrschaft». Nie wäre es ihm in den Sinn gekommen, Volksentscheide zu befürworten, zuzulassen.

Es waren nicht die liberalen Gründer des Bundesstaats, die dem Volk gnädigerweise die direkte Demokratie von oben gewährten. Die Bürgerinnen und Bürger mussten sich ihre Volksrechte, mussten sich ihre direkte Demokratie gegen den Widerstand der Regierenden zäh erkämpfen. Winterthur war im Kanton Zürich das Zentrum dieses demokratischen Aufstands gegen die obrigkeitliche Arroganz der Parlamentskönige um Escher.

War die direkte Demokratie wenigstens nach ihrer Einführung unbestritten? Keinesfalls. Bundesrat und Parlament nutzten die erstbeste Gelegenheit, um die eigene Macht wieder auszubauen – auf Kosten des eigentlichen Souveräns. Anlass bot der Zweite Weltkrieg. Damals regierten Bundesrat und Bundesversammlung ohne direkte Demokratie im sogenannten Vollmachtenregime. Was in Kriegszeiten Sinn ergab, hätte nach Kriegsende sofort beendet werden sollen. Es geschah nicht.

Im Gegenteil. Die Mächtigen in Bern kamen durch den Weltkrieg so richtig auf den Geschmack. Sie wehrten sich gegen die Wiedereinführung der direkten Demokratie. Sogar die Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB), Vorläuferpartei der SVP, machte bei der geplanten Volksausbremsung mit.

Es war Migros-Gründer Gottlieb Duttweiler, der eine Volksinitiative für die Wiederherstellung der vollen politischen Volksrechte lancierte. Er gewann die Volksabstimmung 1949, doch es sollte noch zwei Jahre dauern, bis die direkte Demokratie in alter Blüte installiert war.

Nichts ist weniger selbstverständlich als die einzigartigen Schweizer Volksrechte. Sie sind seit ihrer Institutionalisierung umstritten, bedroht. Manchmal aus dem Ausland, aber vor allem auch aus dem Inland durch unsere eigenen Politiker, die dem Volk die Macht abnehmen wollen.

In jüngerer Zeit sind die Angriffe auf die direkte Demokratie wieder krasser und aggressiver geworden. Parlament und Bundesrat haben sich Ende 2016 über den Volksentscheid gegen die Masseneinwanderung hinweggesetzt. Die Verliererparteien der Volksabstimmung beerdigten einen Volksentscheid, den sie während des Abstimmungsverfahrens erfolglos bekämpft hatten.

Auch Bundesrichter massen sich vermehrt an, Volksentscheide, Verfassungsartikel nur noch bei Bedarf ernst zu nehmen. Es hat sich eingebürgert, internationale Bestimmungen, internationales Recht, die Europäische Union dem Landesrecht vorzuziehen. Die Staatsgewalten, die sich an die Verfassungsbestimmungen des Volkes halten sollten, schwingen sich selber zu Verfassungsgebern auf.

Die stillen Despoten von Bern stehen zusehends auf der Seite der EU, nicht mehr auf der Seite des Schweizer Volks. Das institutionelle EU-Abkommen ist der neuste Versuch, die direkte Demokratie zurückzubinden, die politischen Volksrechte einzuschränken, die Macht des Bürgers abzubauen.

Davon profitieren automatisch die Politiker, regierende Kreise, Eliten, auch Konzernchefs, die sich geärgert haben, als ihnen das Stimmvolk mit der «Abzocker»-Initiative verboten hat, sich beliebig an den Kassen ihrer börsenkotierten Unternehmen zu bedienen.

Die Politiker, die das institutionelle EU-Abkommen wollen, sehen darin ein Instrument, ihre Macht auf Kosten des Volks auszudehnen. Darum sind sie dafür.

Die Geschichte lehrt, dass in der Schweiz die direkte Demokratie nur dann bewahrt werden konnte, wenn sich die Bürgerinnen und Bürger gewehrt haben. Verschlafen die Schweizer heute diesen Kampf, werden sie in der EU aufwachen. In Unfreiheit als Untertanen ihrer Politiker und einer fremden Macht.

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