Weltwoche Editorial 37/19

Editorial

Was heisst rechtsextrem?

Von Roger Köppel

Sinn und Unsinn eines Adjektivs.

So viele Rechtsextreme gab es noch nie. Salvini ist rechtsextrem, Orbán ist es, Trump sowieso, Österreichs FPÖ, möglicherweise sogar Ex-Kanzler Sebastian Kurz, selbstverständlich die SVP oder wenigstens Teile davon, Le Pens Rassemblement national und, auf jeden Fall, keinen Zweifel, die Alternative für Deutschland (AfD), also jene Partei, die sich für die Einführung der direkten Demokratie in Deutschland einsetzt. Noch nicht ganz einig sind sich die medialen Rechtsextremismus-Experten bei Grossbritanniens Premier Boris Johnson. Er ist noch auf Bewährung, unter Beobachtung. Deshalb wird er lauernd als «radikaler Volkstribun» bezeichnet.

Wer heute «rechtsextrem» sagt, will die gemeinten Politiker und Parteien mit den Verbrechen der Nationalsozialisten beschmutzen. Er stellt sie in eine Reihe mit den Horden Hitlers, die den Planeten mit Krieg, Völkermord und monströsen Untaten überzogen haben. Der «Rechtsextremismus» Hitlers war eine gewalttätige, antibürgerliche, antidemokratische und rassistische Form des Sozialismus, also eigentlich links, gegen die Marktwirtschaft und die Freiheitsrechte gerichtet. Anders als die internationalen roten Sozialisten jedoch setzte Hitlers brauner Sozialismus auf die homogene «Volksgemeinschaft», die Staatszugehörigkeit und Bürgerrechte, sofern man davon überhaupt sprechen konnte, auf Blut, Boden und Abstammung abstellte.

Als Hitler von konservativen, rechten Politikern als Verzweiflungswaffe gegen den Marxismus Moskaus an die Macht gehoben wurde, war in Deutschland, war in Europa keineswegs klar, welcher Staatsform die Zukunft gehören würde. Die polarisierenden Debatten zwischen Rechten, Bürgerlichen und Linken waren Verfassungsdebatten, Diskussionen über die Staatsform. Im Unterschied zur Schweiz, die trotz autoritären Versuchungen an ihrem freiheitlichen demokratischen Rechtsstaat festhielt, waren in Deutschland auf der rechten Seite bald die Stimmen in der Überzahl, die den Liberalismus und die Demokratie durch einen korporatistischen Führerstaat ersetzen wollten. Es ging damals also nicht um Fragen wie Vaterschaftsurlaub oder das richtige Rezept gegen den Asylmissbrauch, sondern um Grundausrichtungen der Staatsform und der Entscheidungsfindung in der Politik.

Dieser kleine historische Exkurs macht deutlich, dass die charaktermordende Anspielung auf die damaligen Zeiten, die mit dem Adjektiv «rechtsextrem» bis heute von links immer wieder versucht wird, in die Irre geht. Orbán, Salvini, Trump, Kaczynski in Polen und selbst Marine Le Pen sind keine Rechtsextremen in diesem historisch belasteten Sinn. Sie wollen weder die Demokratie abschaffen, noch streben sie eine «homogene Volksgemeinschaft» an, höchstensfalls restriktivere Regelungen der Einwanderung. Auch in Deutschland ist die Panikmache verfehlt. Ein Politiker, der ernsthaft in die Hitlerzeit zurückwollte, würde in Wahlen einen Stimmenanteil erzielen, der nicht einmal mit dem Elektronenmikroskop zu erkennen wäre. Es ist nicht nur eine Verleumdung der Deutschen, sondern auch eine Verharmlosung der Nazis, wenn man den heutigen Bewohnern der Bundesrepublik unterstellt, sie hätten relevante Sympathien für Politiker, die das schändlichste Kapitel der deutschen Geschichte nochmals aufschlagen möchten.

Klar gibt es in Europa heute rechtsextreme Parteien. Dazu gehören Jobbik in Ungarn oder die postfaschistischen Fratelli d’Italia. Andere Parteien haben rechtsextreme Hintergründe, sind mittlerweile aber durch Häutungen entgiftet, wie etwa die FPÖ, die norditalienische Lega oder die Schwedendemokraten, die sich zum Teil regelrecht gesäubert und rechtsextreme Mitglieder hinausgeworfen haben. Auch Marine Le Pens Rassemblement national ist nicht mehr die antisemitische, militaristische und offen autoritäre Partei ihres Vaters. Man sollte diesen Parteien zubilligen, was man ihren linken Pendants ohne weiteres zubilligt: dass sie sich von der extremistischen Vergangenheit gelöst haben und auf dem rechtsstaatlichen Boden der jeweiligen Verfassungen solide verankert sind. Es ist nicht fair, wenn man einem Politiker, der einmal Mussolini lobte, diese Entgleisung lebenslang vorwirft, während ein Linker, der wie Deutschlands Ex-Aussenminister Joschka Fischer als linker Steinewerfer einst die Polizei attackierte, zum Vorbild an Reife und Läuterung verherrlicht wird.

Die Rechtsextremismus-Keule fällt auf deren Anwender zurück. Demokratie heisst Diskussion, Auseinandersetzung, freie Rede. Mit dem Wörtchen «rechtsextrem» aber sollen Meinungen skandalisiert, Personen diskreditiert und eine breitere Öffentlichkeit von Leuten eingeschüchtert, mundtot gemacht werden, die eine andere Ansicht vertreten als die offiziell genehme. Es ist tragisch, dass viele Journalisten, die sich dauernd auf die Meinungsäusserungsfreiheit berufen, selber deren Abbau betreiben, indem sie die meisten, ja eigentlich alle rechten Politiker früher oder später mit missbräuchlichen Nazianspielungen anschwärzen. Hitler oder Mussolini hätten Freude gehabt an diesen linken Meinungsajatollahs, die jede abweichende Äusserung strafrechtlich verbieten oder durch Einschüchterung präventiv unterbinden wollen.

Der inflationäre Gebrauch des Rechtsextremismus- Vorwurfs nützt sich ab. Und vor allem ärgert er die Leute und Wähler, die sich dadurch zu Recht verunglimpft sehen. Selbst die, die sich ernsthaft Sorgen machen über eine neue gefährliche Rechte in Europa und sich dafür ein mediales Frühwarnsystem wünschen, sollten bedenken: Wer bei jeder nichtlinken Wortmeldung reflexhaft «rechtsextrem » ruft, wird nicht mehr gehört, wenn irgendwann wieder echte Rechtsextreme aufmarschieren. Vieles spricht dafür, die Begriffe abzurüsten und sich mit der Tatsache abzufinden, dass es in der Politik immer links und rechts, Streit und Auseinandersetzung geben wird, hoffentlich auf der Grundlage des pluralistischen demokratischen Rechtsstaats.

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