Weltwoche Editorial 36/20

Editorial

Herbst der Stabilokraten

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ie Stabilokraten wanken. In Weissrussland gehen Hunderttausende gegen den künstlich an der Macht gehaltenen Diktator Lukaschenko auf die Strassen. Im fernen Osten Russlands demonstrieren seit Juli Tausende gegen die Absetzung ihres Gouverneurs durch Putin. An der Adria taumelt nach den Wahlen Montenegros Langzeitherrscher Milo Djukanovic. Allerdings mag noch niemand den seit dreissig Jahren amtierenden Dauerregenten – viermal Premier, zweimal Staatschef – ganz abschreiben.

Putin, Lukaschenko und Djukanovic sind Produkte eines Untergangs. Ihr Aufstieg fiel in die Zeit der Wirren und Umbrüche nach dem Zerfall des Eisernen Vorhangs in Europa. Jeder schaffte es – in den Augen seiner Landsleute – auf seine Art, dem Kollaps des Kommunismus mit Willensstärke und Härte zu trotzen. Ihr Programm lautete Stabilität und Ordnung. Demokratie wurde so weit toleriert, als sie an den Machtverhältnissen nichts änderte.

Weichgespülte Kommunismus-Variante

Man macht es sich zu leicht, aus westlicher Warte die Leistungen dieser unterschiedlichen Staatenlenker nur herabzuwürdigen. Nichts ist anspruchsvoller, als Ordnung aus dem Chaos herzustellen. Djukanovic baute nach der Implosion Jugoslawiens seine Macht auf einem naturgemäss korruptionsanfälligen Clan- und Klientelsystem persönlicher Beziehungen auf. Lukaschenko verpasste Weissrussland eine theaterhafte, weichgespülte Kommunismus- Variante, weniger korrupt, wirtschaftlich offener, aber mitleidlos gegen Widerspruch und Widerstand.

Auch Putin entstieg als damals Unbekannter dem verwesenden Leichnam der Sowjetunion. Erstmals seit Jahrzehnten übernahm ein Nichtalkoholiker die Spitze des Staates. Das von den Zaren zusammengeräuberte Riesenreich war am Auseinanderkrachen. Korrupte Gouverneure, Nationalisten und Kriegsgurgeln tobten über einem Arsenal von rostenden Atomwaffen. Moskau galt als nukleares Weimar, doch Putin machte es besser als die Deutschen: Er hielt sein Land zusammen, gab seinem Volk den Stolz zurück und etwas Wohlstand, ohne in die Rasereien des Faschismus abzustürzen.

Lupenreine Demokraten waren sie nie, doch weder verübten sie Völkermorde, noch stellten sie Konzentrationslager auf wie die verbrecherischen Kommunisten, deren Erbe sie bewältigen mussten. In der finsteren Ahnenreihe der russischen Herrscher seit Iwan dem Schrecklichen stellt Putin einen zivilisatorischen Fortschritt dar. Sein Demokratieverständnis zielt ab auf ein Bündnis zwischen Staat und Mehrheit. Opposition wird geduldet, solange sie für die Stabilität des Staates keine Gefahr bedeutet. Putins Trauma ist die Anarchie, die ausbricht, sobald die Zentrale Schwäche zeigt.

Fällt Putin, was unwahrscheinlich ist, könnte auch das zusammengestückelte Riesenreich zerfallen.

Doch die Autokratien des Ostens offenbaren Stresssymptome. Es braucht mehr Aufwand und kriminelle Energie, um die Systeme aufrechtzuerhalten. Lukaschenkos Wahlfälschungen wurden zu offensichtlich. Djukanovics korrupter Klientelismus kostete seiner Partei die Wahl. Putin, ein anderes Kaliber, sitzt fester im Sattel, doch auch sein Regime setzt immer offensichtlicher auf Gewalt, um die bedrohte Macht zu sichern. Die Giftattacke auf den charismatischen Oppositionellen Alexei Nawalny ist nur das jüngste Beispiel.

Britische Medien ziehen direkte Verdachtsfäden in den Kreml. Doch ob Putin die Untat selber in Auftrag gegeben hat, muss offenbleiben. Der Präsident hat kein Interesse an weiteren Unruhen im Gefolge eines Märtyrertods. Es ist beunruhigender: Vermutlich haben untergeordnete Stellen den Anschlag verübt im Glauben, dem Staatschef entgegenzuarbeiten. Unter dem Langzeitherrscher breitet sich ein Klima mafiöser Paranoia aus, in dem politische Verbrechen selbstverständlich werden. Das ist moralisch widerwärtig, vor allem aber ein Indiz von Schwäche und Kontrollverlust.

Die Jungen machen nicht mehr mit

Tieferer Grund der Erschütterungen im Osten ist auch der Generationenwandel. Die jungen Leute wollen mehr als Stabilität und Ordnung. Sie wollen Freiheit, mehr Demokratie und sozialen Aufstieg. Den Tumult der neunziger Jahre kennen sie aus den Geschichtsbüchern. Die Sowjetunion ist keine konkrete Erfahrung mehr. Die Weissrussen haben die Nase inzwischen gestrichen voll. Gemäss Umfragen will fast die Hälfte der jungen Russen auswandern. Der Brain-Drain ist dramatisch, obschon Putin durchaus Trümpfe in der Hand hat. Seine Regierungsmannschaft gilt als intelligent. Man attestiert dem Präsidenten, er habe sein Land mit geringeren wirtschaftlichen Schäden durch die Corona-Krise gesteuert.

Natürlich hat der Westen ein Interesse an Demokratisierung und mehr Rechtsstaatlichkeit in der ehemaligen Sowjetsphäre. Trotzdem sollte man nicht auf eine Destabilisierung Putins hinarbeiten. Der Economist lancierte grimmig die Idee, die Nato weiter gegen Moskau auszudehnen. Das wäre töricht. Denn vielleicht hat Putin ja recht. Er ist überzeugt, dass nur die Stärke eines Mannes den russischen Koloss zusammenhalten kann. Wenn Putin fällt – was in absehbarer Zeit unwahrscheinlich ist –, könnte auch das zusammengestückelte Grossreich wieder in seine Einzelteile auseinanderfallen. Interessant ist, was dann die Chinesen machen würden. Bevor man sich auf Putin einschiesst, sollte man als Europäer diese Perspektive genauer überdenken.

R.K.

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