Weltwoche Editorial 35/20

Editorial

Keller-Sutter, Reiterin der Apokalypse

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ie Kampagne des Bundesrats gegen die Begrenzungsinitiative hat einen Grad an Unaufrichtigkeit und Falschheit angenommen, der das übliche Mass an offiziellen Unwahrheiten in Abstimmungskämpfen übersteigt. Egal, wie man sich zu dem Anliegen stellt, das die Personenfreizügigkeit neu verhandeln und die Zuwanderung beschränken will, ist doch das Ausmass des Schreckens erstaunlich, das eine Annahme des Volksbegehrens angeblich verursachen soll.

Es fängt schon damit an, dass die zuständige Bundesrätin jede Hemmung ihres Amtes ablegt, um sich höchstpersönlich als apokalyptische Reiterin ins Getümmel zu werfen. Selten hat man eine derart intensive Propagandatätigkeit eines Regierungsmitglieds gesehen bei einer Vorlage, gegen die ausser einer Partei alle gesellschaftlich relevanten Kräfte inklusive Medien geschlossen einstehen. Sollte die Abstimmung trotzdem verlorengehen, müsste Karin Keller-Sutter, wenn sie es denn ernst meint, umgehend zurücktreten.

Aufdringliche Meinungsbevormundung

Möglicherweise ist die unselige und von den Behörden inzwischen zur Machtausdehnung hochgespielte Corona-Pandemie ein Grund dafür, warum sich die Landesregierung anmasst, den Stimmberechtigten auf diese Weise den Kurs vorzugeben. Wir erleben in der Schweiz derzeit einen historisch wohl einzigartigen Ausbau staatlicher Tätigkeiten in intimste Lebensbereiche. Die aufdringliche Meinungsbevormundung durch den Bundesrat vor einer Abstimmung ist ein Symptom dieser Tendenz, erreicht aber dennoch eine neue irritierende Qualität, sofern man diesen Begriff hier verwenden will.

Im Zentrum der Antikampagne steht die Behauptung, eine Annahme der Initiative würde zu einer Kündigung der Bilateralen I und damit zu einem Wegbrechen des Schweizer Wohlstands führen. Warum das so sein soll, können die Gegner der Begrenzung bis heute nicht begründen. Die Bilateralen I sind seinerzeit von der Schweiz und der EU im gegenseitigen Interesse verhandelt worden. Dass die Schweiz von den Abkommen stärker profitiert als die EU, ist unwahrscheinlich. Chefunterhändler des Bundes war Jakob Kellenberger, erklärter Freund eines Schweizer EU-Beitritts. Er kam Brüssel mehrfach entgegen bei der Personenfreizügigkeit, beim Landverkehr und bei der Guillotine-Klausel, die der Diplomat nie hätte akzeptieren dürfen.

Das Argument der Wirtschaftsverbände, ein mögliches Wegfallen der Bilateralen I sei tödlich für den Schweizer EU-«Marktzugang», ist eine wissentliche Falschaussage. Allen Beteiligten ist klar, dass der Zugang der Schweizer Exporteure zum EU-Markt zu weit über 90 Prozent durch das Freihandelsabkommen EU– Schweiz von 1972 gesichert ist. Sollte die EU diskriminierende Massnahmen gegen die Schweizer Wirtschaft verhängen, könnte der Bundesrat vor der Welthandelsorganisation (WTO) gegen Brüssel klagen.

Sollte die Abstimmung trotzdem verlorengehen, müsste sie, wenn sie es ernst meint, sofort zurücktreten.

Ungeachtet dessen verbreitet Justizministerin Keller-Sutter fast unwidersprochen den Irrtum, bei der kommenden Abstimmung gehe es um die Frage «Wollt ihr Wohlstand oder nicht?». Dabei besagen sogar die 2015 im Auftrag des Bundes erstellten Studien, dass es in der Zeit der Personenfreizügigkeit pro Kopf nur ein geringfügiges Einkommenswachstum gegeben hat. Das ganze Wirtschaftswachstum ergab sich vor allem aus der Bevölkerungszunahme – auf Kosten der Produktivität.

Um die Bedeutung der Bilateralen I ins Unermessliche zu übertreiben, schrecken die Befürworter der Freizügigkeit auch vor offensichtlicher Geschichtsklitterung nicht zurück. Immer wieder behaupten Gewerbe- und Arbeitgeberverband, dass die sieben Verträge der Bilateralen I die Schweiz nach dem Nichtbeitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum in den neunziger Jahren aus einer tiefen Rezession befreit hätten. Tatsache ist: Die Schweiz steckte zu Beginn der neunziger Jahre aufgrund einer Immobilienkrise in der Rezession, und die Nationalbank betrieb nach den vorangegangenen inflationären Jahren eine restriktive Geldpolitik. Bereits 1996 zog die Konjunktur wieder an. 2001 erlebte die Schweiz nach einem Börsenboom das Platzen der Dotcom-Blase. Die Bilateralen I traten 2002 in Kraft, die Personenfreizügigkeit erst 2007.

Bilaterale I objektiv überschätzt

Wir wollen die Bedeutung der sieben Bilateralen I unter über 200 bilateralen Verträgen zwischen der Schweiz und der EU nicht für null erklären. Aber sie sind bei weitem nicht so wichtig, wie ihre Bejubler erzählen. Der Schweizer Export ausserhalb der EU wächst schneller als der Export in die EU, und zwar ohne die «Binnenmarktzugänge » der Bilateralen I, sondern abgestützt auf zahlreiche Gesetze und Freihandelsverträge. Viel entscheidender für den Exporterfolg freilich sind die vielen hervorragenden und begehrten Schweizer Produkte. Nicht zufällig ist das Börsensegment «Swiss Small and Mid Caps» der weltweit am besten performende Aktienbereich der letzten vierzig Jahre. Auch diese erstaunliche Leistung kam über weiteste Strecken ohne die überschätzten Bilateralen I zustande.

Allerdings profitieren Unternehmen und Gewerkschaften inzwischen massiv von der Personenfreizügigkeit, die in der Schweiz bei ihrer von der EU geforderten Einführung niemand wollte. Die Firmen verfügen über ein Reservoir an billigen Arbeitskräften aus der EU, um die Löhne tief zu halten. Die Gewerkschaften kassieren Millionen dank den flankierenden Massnahmen, die sie aufgrund der Personenfreizügigkeit zum Schaden eines liberalen Arbeitsmarkts einführen konnten. Anstatt diese Interessen offenzulegen, erzählt man den Leuten lieber das Märchen der Bilateralen I als lebenserhaltender Schweizer Wohlstandsnabelschnur.

Die EU selber relativiert die volkswirtschaftliche Bedeutung der Bilateralen I für die Schweiz. Der abtretende EU-Botschafter Michael Matthiessen bezeichnet die Schweizer Kohäsionszahlungen als «Eintrittsbillett» in den EUBinnenmarkt. Wenn die «Kohäsionsmilliarde» laut Brüssel den Eintritt sichert, braucht es die Bilateralen I nicht mehr.

R.K.

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