Weltwoche Editorial 34/20

Editorial

Mass und Masslosigkeit

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ie viel ist genug? Vor dreizehn Jahren lebten eine Million Menschen weniger in der Schweiz. Der Kleinstaat hat seit der Einführung der Personenfreizügigkeit eine höhere ProKopf-Zuwanderung als die Vereinigten Staaten oder Australien. Früher hatte die Schweiz deutlich weniger Einwohner als Österreich. Heute hat sie mehr. Trotz Shutdown und geschlossenen Grenzen nahm die Zuwanderung gegenüber dem Vorjahr zu.

Man kann es als grossartiges Kompliment betrachten. Glücklich ist das Land, in dem alle wohnen wollen. Die Schweiz hat hohe Löhne, fantastische Betriebe, funktionierende Verwaltungen, schöne Landschaften, weniger korrupte Politiker, ausgebaute Sozialwerke. Der Wohlstand lockt an. Mittlerweile leben 8,5 Millionen Menschen im Kleinstaat mit den Bergen. Ein Viertel davon sind Ausländer. Die allermeisten sind friedlich und arbeiten hart. Die Schweiz ist ein Wunder der Integration. Wie kann sie es bleiben?

Migration ist eines der heikelsten politischen Themen, weil es an urtümliche Instinkte rührt. Der Mensch ist ein territoriales Tier. Er verteidigt sein Revier. Wer es bezweifelt, kann sich in überfüllten Zügen die Gesichter der Sitzenden anschauen, wenn ein Neuankömmling im Abteil den letzten freien Platz begehrt. Wären den Menschen Raum und Besiedelung egal, hätten sie weder Staaten gegründet noch Grenzen gezogen.

Tief drin ahnen, wissen es alle: Man kann einen Kleinstaat nicht mit beliebig vielen Menschen abfüllen. Auf dem Reissbrett ist eine Schweiz als Singapur voller Wolkenkratzer denkbar. In der Praxis aber sind die Menschen gegen den ungebremsten Zustrom von aussen. Eine Mehrheit der Bürger und Kantone stimmte vor sechs Jahren der verfemten SVP-Masseneinwanderungsinitiative zu. Die unterlegenen Gegner waren so empört, dass sie sich einfach weigerten, das Volksbegehren umzusetzen.

Nun steht die Volksabstimmung über die Begrenzungsinitiative vor der Tür. Der Vorstoss verlangt die Aufhebung der EU-Personenfreizügigkeit auf dem Verhandlungsweg. 500 Millionen EU-Bürger sollen ihren automatischen Rechtsanspruch auf Einwanderung verlieren. Die Schweiz soll an ihren Grenzen wieder selber bestimmen.

Die Forderungen sind so selbstverständlich, dass die Gegner der Begrenzung ganze Arsenale an Horrorvisionen aufbieten müssen, um die Leute gegen die Initiative aufzubringen. Ihr Hauptargument ist die Prognose, dass der Schweiz bei einer Annahme der Absturz in namenlose Armut droht. Der Vorteil solcher Zukunftsangstszenarien liegt darin, dass sie so schauerlich wie unbeweisbar sind.

Dem vorhergesagten Untergang stehen die alltäglichen Erfahrungen vieler Schweizerinnen und Schweizer gegenüber. Sie erleben die überfüllten Strassen, die steigenden Mieten, die betonierte Landschaft, die zunehmende Hässlichkeit der Städte, den Lohndruck und die Schulen, an denen immer weniger Kinder eine Landessprache sprechen. Sie möchten den Beteuerungen glauben, die Migrationswelle der letzten Jahre habe die Schweiz zu einem Paradies an Vielfalt und Wohlstand gemacht. Wenn nur die Wirklichkeit nicht wäre.

Die Schweiz ist ein Integrationswunder, weil sie Migration mit Mass ermöglicht hat. Nichts zu übertreiben, ist ein schweizerischer Wesenszug. Die EU-Personenfreizügigkeit brachte Masslosigkeit und Fremdbestimmung. Das Experiment hat sich nicht bewährt. Es ist Zeit, es zu beenden. Die kurzfristigen Schmerzen des Ausstiegs sind kleiner als die langfristigen Schäden eines unbegrenzten Wachstums der Bevölkerung.

Friedensstifter Trump

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etzte Woche haben Israel und die Vereinigten Arabischen Emirate ein sensationell anmutendes Friedensabkommen unterzeichnet. Der Pakt soll die vollständige Normalisierung der diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den einst verfeindeten Staaten bringen. Als Architekt hinter dem «Deal» wirkte am scheinbaren Tiefpunkt seiner Amtszeit ausgerechnet der vielkritisierte US-Präsident Donald Trump.

Das Abkommen ist auch deshalb interessant, weil es gegen alle Prognosen und Mahnungen der internationalen Expertengemeinde zustande kam. Trumps Nahost-Politik galt als selbstmörderischer Poker, denn laut Fachkreisen sind Friedensschlüsse unter Arabern und Israelis nur dann möglich, wenn Israel Land aufgibt, die Amerikaner neutral vermitteln und die Ansprüche der Palästinenser erfüllt werden.

Trump machte alles anders. Er stellte sich von Beginn an unverrückbar hinter seinen Allianzpartner Israel. Als er unter internationalem Protest die US-Botschaft nach Jerusalem verlegte, sagten ihm die Experten Krieg voraus. Das Gegenteil geschah. Trump hatte recht. Loyalität zahlt sich aus.

Bemerkenswert ist, dass die Araber die territorialen Ansprüche Israels nicht in Frage stellen. Statt Land für Frieden heisst es heute: Frieden für Frieden. Das ist ein Gezeitenwechsel.

Die Palästinenser sind das vorläufige Opfer ihrer eigenen Friedensunfähigkeit geworden. Und ihrer Nähe zum Iran. Die Terror-Mullahs sind der gemeinsame Feind, gegen den Araber und Israelis nun zusammenspannen.

So gesehen, ist Trumps Erfolg auch das Resultat des Nahost-Fiaskos seines Vorgängers Obama. Der Friedensnobelpreisträger, der viel Unfrieden stiftete, ging zu Israel auf Distanz und setzte auf Annäherung zu Teheran. Indem Obama den Iran stärkte, schuf er unabsichtlich die Grundlage für das Abwehrbündnis zwischen Israel und den Arabischen Emiraten.

Trump wird den Nobelpreis nicht bekommen, aber andere haben ihn für weniger erhalten.

R.K.

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