Weltwoche Editorial 31/32/20

Editorial

Christentum und Freiheit

Von Roger Köppel

Nur ein Gott kann die CVP noch retten.

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ie Christlichdemokratische Volkspartei der Schweiz (CVP) denkt darüber nach, das christliche C aus ihrem Namen zu streichen. Einen nachvollziehbaren Grund für diesen Schritt gibt es nicht. Man argumentiert mit Meinungsumfragen. Zur Debatte steht eine Fusion mit der abserbelnden Bürgerlich- Demokratischen Partei (BDP). Sollte die CVP deswegen ihr C aufgeben, wäre es wohl das erste Mal in der Weltgeschichte der Fusionen, dass der stärkere Teil seinen Namen opfert, um dem schwächeren Teil, der allein ohnehin nicht überleben kann, entgegenzukommen. Oder ist es ein falsch verstandener Akt von Nächstenliebe?

Die C-Diskussion fällt vielleicht nicht zufällig in eine Zeit, da radikale Antirassismus-Bewegungen in den USA Statuen von Jesus vandalisieren und abreissen wollen, weil sie angeblich Ausdruck einer weissen Überlegenheitsdoktrin seien. So jedenfalls äussert sich in seinen Tweets Shaun King, der Anführer der linksmilitanten Gruppe Black Lives Matter. Seiner Ansicht nach müssen die Standbilder «jenes weissen Europäers, den sie Jesus nennen, fallen, denn sie sind eine Form weisser Unterdrückung. Waren es immer.» Die amerikanischen Gleichheitsfundamentalisten räumen jetzt also nicht nur die Gründer ihres Staates ab. Ihr Hass richtet sich auch gegen die heiligsten Symbole der westlichen Zivilisation.

Warum muss uns dieser Angriff auf Insignien des Christentums, sei es durch Black Lives Matter, sei es durch die Schweizer CVP, beunruhigen? Ich sage das explizit aus der Warte eines nicht besonders gläubigen Menschen. Meine religiöse Ausbildung zu Hause bestand darin, dass unser Grossvater, der den Zweiten Weltkrieg als Zeuge aus nächster Nähe erlebt hatte, regelmässig Wutanfälle gegen den «banalen Optimismus» unserer Grossmutter bekam, wenn sie mit uns Kindern Gutenachtgebete aufsagte. Er hielt Gott für eine Lüge, für tot oder für einen Zyniker, denn ein Gott, den man ernst nehmen könnte, hätte solche Katastrophen niemals zugelassen.

Ich spreche hier also nicht aus der Perspektive eines gefühlsmässig Beleidigten, der sich persönlich attackiert fühlt, wenn christliche Symbole unter die Räder geraten. Ich spreche aus der Warte eines Schweizers, dem Freiheit und Demokratie am Herzen liegen. Und genau hier muss die Beunruhigung ansetzen. Das Christentum hat nämlich über das Theologisch-Religiöse hinaus eine zutiefst politische Bedeutung. Die Vorstellung, dass es nur im Himmel einen allmächtigen Gott gibt, ist gleichbedeutend mit der Idee, dass es auf Erden keinen allmächtigen Menschen geben kann. Die christliche Idee Gottes ist die mächtigste Barriere, die wir haben gegen die Anmassung von Menschen, andere Menschen zu beherrschen.

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ier liegt der tiefere Grund, warum die radikale Linke immer schon die Religion und das Christentum bekämpfte. Der kommunistische Vordenker Karl Marx hielt die Religion, worunter er vor allem das Christentum verstand, für den Ausdruck eines «falschen Bewusstseins», das die Menschen daran hindere, den wahren Grad ihrer persönlichen Unterdrückung zu durchschauen. Für Marx war die Religion eine Droge, «Opium für die Massen». Die Religion musste demnach beseitigt werden, damit die Menschen endlich das irdische Paradies ihrer angeblich absoluten Freiheit im Kommunismus erreichen würden. Marx hielt dem Christentum seine eigene kommunistische Religion entgegen und predigte den Leuten, sie sollten nicht mehr zu Gott aufschauen, sondern zu Marx und seinen Kommunisten, neben denen er keinen anderen Gott mehr duldete.

Alle totalitären Staaten des 20. Jahrhunderts waren gegen das Christentum, weil das Christentum, richtig verstanden, der natürliche Feind totaler Herrschaft ist. Solange es einen Gott gibt, hat die Macht der Menschen Grenzen. Wo es keinen Gott mehr gibt, ist der Mensch den Menschen ausgeliefert, den Mehrheiten, dem Zeitgeist, der politischen Korrektheit, der Politik. Ohne das Christentum wäre die moderne Idee der persönlichen Freiheit niemals Wirklichkeit geworden. Der Liberalismus ist angewandtes Christentum.

Ich bin mir bewusst, dass ich vor 200 Jahren einen anderen Leitartikel geschrieben hätte. Damals stand die Religion im Bund mit den Monarchien gegen die Freiheitskämpfer der Aufklärung. Heute allerdings scheint es eher so zu sein, dass Menschen, die einen stärkeren Bezug zu einer jenseitigen Autorität haben, die Freiheitskämpfer sind, die Nonkonformisten und Zweifler, die sich vom Zeitgeist und seinen Predigern nicht so willig vereinnahmen, nicht so leicht einschüchtern lassen. Wer Halt findet in einer allmächtigen Instanz, die nicht von dieser Welt ist, leistet weltlichen Mächten, die ihn bedrängen, eher Widerstand. Die radikallinke Black-Lives-Matter-Bewegung verschandelt Jesus- Statuen, weil auch sie neben sich keinen anderen Gott mehr haben will. Wer christliche Symbole angreift, greift nach der absoluten Herrschaft.

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eute bräuchte es wenn schon mehr, nicht weniger christliche Politik gegen diese Tyrannei der Moralisierer. Christliche Politik ist nicht softreligiöses Gutmenschentum, sondern Politik aus dem Bewusstsein einer unberührbaren persönlichen Freiheit heraus. Was da draussen auch immer an modischen Wahrheiten eingepeitscht werden mag, die individuelle Freiheit, die Stimme des eigenen Gewissens, bleibt das unerschütterliche Bollwerk gegen die Zumutungen der Menschen. Christlich heisst da vor allem skeptisch, misstrauisch. Christlich ist der kulturell institutionalisierte Restvorbehalt gegen jede Form von Herrschaft, die angeblich im Namen höchster Ideale ausgeübt werden soll.

Wenn eine Greta wie eine Heilige verehrt wird, sollten die C-Parteien nicht mit in Trance verfallen, sondern auf die Barrikaden steigen. Wenn in den USA Jesus- Statuen fallen, müssten die C-Parteien einen Kreuzzug für die christliche Freiheitslehre starten. Stattdessen denken sie in der Schweiz in todessehnsüchtiger Verzagtheit bereits darüber nach, der christlichdemokratischen CVP das C aus dem Namen zu entfernen. Eine unzeitgemässere, verzweifeltere, dümmere Idee ist aktuell kaum vorstellbar. Nur ein Gott kann diese CVP noch retten.

Wichtiger Hinweis: Das ist unsere Doppelausgabe zum Nationalfeiertag. Die nächste Weltwoche erscheint am 13. August. «Weltwoche daily» macht bis 4. August Sendepause.

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