Weltwoche Editorial 30/20

Editorial

Cedric Wermuth

Von Roger Köppel

Ein Plädoyer aus sozial-liberaler Sicht.

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ächsten Oktober wählen die Schweizer Sozialdemokraten einen neuen Präsidenten. Der schlaue Machtschachspieler Christian Levrat tritt ab, sein Nachfolger wird der Aargauer Machtnachwuchspolitiker Cédric Wermuth. Weil Wermuth den Nachteil hat, dass er ein Mann ist, muss ihm eine Frau als Co-Präsidentin zur Seite gestellt werden. Es ist dies die so begabte wie humorlose Zürcher Nationalrätin Mattea Meyer. Dass die Frau keinen Spass versteht, machte sie im Rahmen der grossen Sexismusdebatte im Bundeshaus vor dreieinhalb Jahren deutlich. Auf die Frage, ob es denn nicht übertrieben sei, wenn Feministinnen jedes Kompliment von Männern gleich als Angriff empfinden, entgegnete Meyer mit schroffer Selbstverständlichkeit: «Es ist kein Kompliment, wenn Frauen auf ihr Aussehen reduziert werden.»

Allgemein wird befürchtet, das Duo Wermuth/Meyer würde die SP scharf nach links führen. Innerhalb der Partei gibt es Bedenken, die Meinungsvielfalt könnte leiden unter den beiden mutmasslichen Radikalinskis, die sich aus Jungsozialistenzeiten kennen. Diese Befürchtungen sind zu relativieren. Trotz formaler Ebenbürtigkeit wird Mattea Meyer, ideologisch weit sturer als ihr Compagnon, die zweite Geige an der Spitze spielen. Dies jedenfalls bestätigen führende Mitglieder der Fraktion. Sie sehen Wermuth in der dominierenden Rolle als Chef. Zweifellos ist der Aargauer ein politisches Ausnahmetalent, natürlicher Provokateur, selbstbewusst auftretend, aber beweglich. Im letzten Aargauer Ständeratswahlkampf schmiegte er sich schnurrend wie ein Schmusekater an den freisinnigen Kandidaten Thierry Burkart. Seine antrainierte Geschmeidigkeit macht Wermuth zu einer Art männlichem Äquivalent der deutschen Linkspolitikerin Sahra Wagenknecht.

F

alsch ist die Annahme, Wermuth, der frühere Juso-Präsident und Hausbesetzer, sei ein unverbesserlicher Linksextremer. Wäre er dies, müssten sich seine bürgerlichen Gegner keine Sorgen machen, denn Extreme kommen in der Schweiz schlecht an. Wermuth allerdings ist für die Rechten gefährlich, gerade weil seine bestimmende Eigenschaft sein pragmatischer Wille zur Macht ist, eine instinkthafte Neigung, politisch immer ungefähr dort hinzudriften, wo sich Mehrheiten ergeben könnten, also im breiten Gelände links von der Mitte. Man wird Wermuth nicht gerecht, wenn man ihn an seinen früheren radikalen Positionen misst, die er sich aus Gründen der Selbstvermarktung zu eigen machte. Der Politologe mit französischen Wurzeln hat das Aussehen, die Fantasie und auch die rhetorische Fähigkeit, sich im Lichte neuer Mehrheitschancen immer wieder neu zu erfinden, am jeweiligen Machtpol auszurichten, wobei er auch die Kunst beherrscht, seinem Opportunismus den Anschein einer unerschütterlichen Gradlinigkeit, ja die Kohärenz einer bruchlos wirkenden Biografie zu vermitteln.

Diese letzte Bemerkung ist nicht zynisch gemeint. Irgendwann kommt jeder intelligente Sozialdemokrat, der nicht im glorreichen Elend ewiger Opposition versauern will, auf den Gedanken, dass er sich aus dem Getto der reinen Lehre bewegen muss, um die Macht zu erobern oder wenigstens an ihr teilzuhaben. Noch unklar allerdings ist, wie SP-Chef Wermuth diese Einsicht konkret anwenden wird, denn noch wissen wir nicht, welche Strategien die linken Parteien international wieder nach vorne bringen werden. Die Lage ist unentschieden, leicht diffus. In Dänemark und Schweden haben reformierte Sozialdemokraten einen gewissen Erfolg, weil sie sich beim Thema Migration vom Dogma offener Grenzen entfernen. In den USA scheint demgegenüber eine intellektuelle Radikalisierung und Theoretisierung der Linken stattzufinden. Ihre Haupt-Kampfzone sind die Medien und die Universitäten. Sie versuchen, die Debatte weg von konkreter Politik auf die Stufe von Moral- und Ideologiefragen zu stemmen. Das garantiert zwar Aufmerksamkeit und Schlagzeilen, wird aber in aller Regel nur von den Fans und weniger von den allgemeinen Wählern honoriert.

Wermuth, so vermuten Leute, die ihn in nächster Nähe erleben, werde versuchen, auf beiden Hochzeiten zu tanzen. Er werde mit seinen Auftritten das rhetorische Feuer entfachen, das seine linken Hardcore-Anhänger von ihm erwarten. Gleichzeitig werde er sich bemühen, den Bogen nicht zu überspannen, um anschlussfähig zu bleiben für interessante Posten, auf die er als bisher lebenslanger Berufspolitiker angewiesen bleibe. Rein äusserlich ist schon jetzt eine Entwicklung ins staatsmännisch Seriöse unverkennbar. Der frühere Heisssporn mit wilder Bartfrisur tritt in eleganter, aber nicht zu eleganter Kleidung auf. Da wird kein Haar dem Zufall überlassen, und auch körperlich hat sich der früher etwas füllig-rundlich Wirkende im Fitnessstudio optimiert. Wermuth strahlt heute den Wunsch nach umfassender gesellschaftlicher Anerkennung aus. Wer ihn im Bundeshaus am Rednerpult beobachtet, sieht einen Politiker, der breitbeinig darauf hinarbeitet, seine wilden Juso-Jahre vergessen zu machen, allerdings nicht plötzlich ruckartig, sondern organisch allmählich. Lächelnd marschiert er, den Rebellen mimend, in die Mitte.

A

us Sicht der SP ist Wermuth derzeit der mit Abstand talentierteste Politiker im Angebot. Er ist weniger ideologisch und viel flexibler, als seine Widersacher behaupten. Ob er die Vision, das Selbstvertrauen und das Rückgrat hat, die Sozialdemokraten in neue Gefilde zu führen, ist offen, aber zuzutrauen wäre es ihm durchaus. Sein Rollenspektrum ist gross, vielleicht zu gross. Einst wollte er den Kapitalismus abschaffen, heute predigt er mit der gleichen Überzeugung die soziale Marktwirtschaft. Noch gilt Wermuth als felsenfester Verfechter eines Schweizer EU-Beitritts, aber auch das kann sich bei einem Politiker seines chamäleonartigen Typs rasch ändern. In der Partei ordnet man ihn nach wie vor dem linken Flügel zu, doch die sozialliberale «Realo»-Fraktion steht Wermuth aufgeschlossener gegenüber, als der von den Medien erzeugte Eindruck glauben macht. Für die Bürgerlichen wäre Wermuth ein formidabler, unbequemer Gegner. Deshalb versuchen sie ihn aus einer gewissen Hilflosigkeit heraus als den Extremisten hinzustellen, der er nicht ist.

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