Weltwoche Editorial 29/20

Editorial

Fröhlich eingelullt

Von Roger Köppel

Neue Kluft zwischen der Schweiz und der EU. Seltsame Proteste. Corona, eine Pandemie der Transparenz.

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ie Financial Times meldet, dass die EU einen bisher unbekannten Paragrafen dazu nutzen möchte, internationalen Konzernen in Europa mehr Steuern abzuluchsen. Der Vorstoss richte sich allerdings weniger gegen die Konzerne direkt als vielmehr gegen die EU-Mitgliedstaaten, die auf die gefährliche Idee kommen könnten, im Gefolge der Corona-Krise internationalen Unternehmen tiefere Steuern anzubieten.

Anscheinend handelt es sich um Paragraf 116 des EU-Vertrags. Er gibt Brüssel die Macht, «Störungen» im europäischen Binnenmarkt zu korrigieren. Bisher sei dieser Passus nie aktiviert worden, schreiben die Journalisten. Allerdings könne die EU-Kommission mit diesem Instrument beim Europäischen Gerichtshof Staaten mit «störend» tiefen Unternehmenssteuersätzen einklagen. Im Visier seien die Niederlande, Luxemburg, Belgien und Irland. Die EU stellt sich auf den Standpunkt, die Massnahme sei gedacht, um «schädliche» Steuersenkungen in wirtschaftlich anspruchsvollen Zeiten zu bekämpfen.

Warum ist diese Nachricht aus Schweizer Sicht interessant? Weil die Schweiz traditionsgemäss in Europa ein Land mit niedrigen Steuern war. Ob sie es immer noch ist, darüber kann man streiten. Aber nicht bestreiten lässt sich die Feststellung, dass die Schweiz dank einem günstigen Steuerklima in der Vergangenheit eine Vielzahl grossartiger Unternehmen anziehen und hierbehalten konnte. Die Garantie privaten Eigentums, die Stabilität der Rechtsordnung und ein freier Arbeitsmarkt waren weitere Trümpfe. Aber die Steuern waren immer mindestens so wichtig.

Die Schweiz steht für Steuerwettbewerb und möglichst niedrige Abgaben. Die EU steht für das Gegenteil. Traumatisiert von mehreren Weltkriegen, scheinen sich Europas Politiker immer sturer darauf verständigen zu wollen, in der EU das System eines fiskalischen Einheitsstaats einzuführen. Wettbewerb ist Gift, die Ansprüche der Steuerbehörden sind wichtiger als das Portemonnaie der Bürger und der Unternehmen. Man muss nicht Ökonom oder Politologe sein, um in der Steuerfrage eine weitere Unvereinbarkeit zwischen der Schweiz und der heutigen EU zu sehen.

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war flauen die Rassenproteste in den USA allmählich ab, doch die Frage bleibt interessant, warum die Auflehnung gegen Sklaverei und Rassismus gerade dann am heftigsten aufbrandet, wenn es den Schwarzen in den USA so gut geht wie nie. Alle Statistiken belegen das, etwa die Durchschnittseinkommen oder die Zahl der College-Abschlüsse. Sie waren nie höher.

Natürlich ist die im Fall Floyd dokumentierte Polizeigewalt ein Hammerschlag. Doch die Einhelligkeit, mit der dieses Verbrechen in der Öffentlichkeit verurteilt wird, macht doch hinreichend deutlich, dass die USA kein Staat von Sklavenhaltern mehr sind. Ausserdem hatten die USA bis vor kurzem einen schwarzen Präsidenten mit Vorfahren in Kenia. Viele scheinen es vergessen zu haben. Oder wollen sie es vergessen?

Was also ist der Grund für den Aufruhr? Gewiss, die Wahlen spielen hinein. Hinter der Flagge der Antirassisten marschieren die Trump-Gegner, viele Linke, Leute, denen der gegenwärtige Präsident nicht passt. Trotzdem bleibt es merkwürdig. Wir sind mit der Tatsache konfrontiert, dass Menschen, denen es wirklich dreckig geht, ihre Lage oft erstaunlich lange klaglos erdulden. Kaum aber stellt sich Besserung ein, bricht der geballte Unmut, dessen Anlass nicht mehr besteht, ungefiltert aus ihnen heraus. Könnte es sein, dass soziale Proteste wie diese immer auch das Resultat eines Mangels an anderen, gravierenderen Problemen sind? Nur weil die Gegenwart vergleichsweise schön ist, können es sich die Menschen leisten, sich mit dieser Wut und Energie in die Sünden und Missstände der Vergangenheit zu stürzen.

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n den letzten Wochen wurde mein Sinn fürs Surreale mehrfach strapaziert. Ich spreche von Corona. Am Anfang hatten wir Verständnis. Das Virus war unbekannt. Der Bundesrat wollte keine Risiken eingehen. Namhafte Experten zeigten Modellkurven mit über 100 000 Toten in der Schweiz bis Juli. Die Weltgesundheitsbehörde (WHO) ängstigte uns mit Berichten, laut denen 4 Prozent der Infizierten sterben würden.

Inzwischen sehen wir klarer. Die Todesrate ist vierzigmal kleiner, bei ungefähr 0,1 Prozent, im Bereich einer schweren Grippewelle. Von den Verstorbenen ist die Hälfte älter als 84, die andere Hälfte zwischen 78 und 84. Die durchschnittliche Lebenserwartung in der Schweiz liegt bei 83. 97 Prozent der Verstorbenen hatten eine oder mehrere Vorerkrankungen. 85 Prozent der über Achtzigjährigen, die sich mit Sars-CoV-2 anstecken, überleben. Die Forscher mit ihren falschen Modellrechnungen haben sich in ihre Universitäten verkrochen.

Viren suchen die Menschen seit Zehntausenden von Jahren heim. Zum ersten Mal aber haben wir die Instrumente, um ihre Ausbreitung in Echtzeit zu verfolgen. Infektionszahlen, Hochrechnungen, Sterblichkeitsziffern, Hotspots und angebliche dramatische Einzelfälle in den sozialen Medien haben eine Art Pandemie der Erregung erzeugt, die weitgehend darauf zurückzuführen ist, dass unser Wahrnehmungsapparat es nicht gewohnt ist, mit den Daten zurechtzukommen, die täglich auf uns einprasseln.

Neu ist nicht die virale Bedrohung. Neu ist nur die Transparenz, mit der uns Medien und Behörden das Virus vermitteln. Bis wir lernen, mit den Zahlen und Kurven umzugehen; bis wir es schaffen, darauf eine angemessene emotionale Reaktion zu entwickeln, wird die Pandemie andauern und damit auch der politische und wirtschaftliche Ausnahmezustand, in den sich die Menschen, fröhlich eingelullt durch gigantische Zahlungen des Staates, so widerstandslos fügen.

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