Weltwoche Editorial 28/19

Editorial

Die Schweiz steht noch

Von Roger Köppel

Wer hat noch Angst vor der EU? Der Schweizer Börse geht es prächtig.

Unter den Schweizer Medien ist die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) am leidenschaftlichsten für den institutionellen EU-Rahmenvertrag.

Chefredaktor Eric Gujer schrieb mehrere wohlwollende Editorials. Leute oder Parteien, die diesen Vertrag nicht wollen, werden als Provinzler, als Gestrige abgestempelt.

Es war auch die NZZ, die in monatelanger, anschwellend panischer Berichterstattung bis Ende Juni die grosse Angst vor dem EU-Börsenboykott schürte.

Zum Hintergrund: Die EU drohte der Schweiz mit der Nichtanerkennung der hiesigen Börse, sollte der Bundesrat das von der EU erpresserisch gewollte Rahmenabkommen nicht unterzeichnen.

Seit Anfang Monat ist der Börsenboykott Tatsache. Und siehe da: Die Schweiz steht noch. Der Börse geht es blendend. Und in der NZZ ist plötzlich keine Zeile mehr darüber zu lesen.

Das sind erfreuliche Nachrichten in mehrfacher Hinsicht.

Erstens: Der Bundesrat hat seit langem erstmals einer EU-Erpressung die Stirn geboten. Trotz Drohungen gegen die Schweizer Börse hat er den Rahmenvertrag noch nicht unterschrieben.

Zweitens: Der Bundesrat, namentlich Finanzminister Maurer, hat nicht nur nein gesagt. Er hat für die Börse auch ein Abwehrdispositiv gebaut.

Folge: Die Schweizer Börse profitiert vom EU-Boykott, weil Schweizer Titel jetzt zwingend an der Schweizer Börse gehandelt werden müssen.

Drittens: Viele Schweizer merken, dass sich die EU-Drohung als Luftheuler erweist. Die Aura des Schreckens, die Brüssel zur Einschüchterung verbreitet, hat ihren Schrecken eingebüsst.

Viertens: Die EU wird über kurz oder lang den Börsenboykott, den sie an sich nie wollte, sondern nur als Instrument zur Erpressung des Rahmenabkommens benutzte, wieder aufgeben.

Warum? Weil auch die EU realisiert, dass sie mit ihrer fruchtlosen Börsendiskriminierung den Rahmenvertrag nicht bekommen wird.

Daraus folgt fünftens die Hoffnung, dass die Schweizer Regierung etwas Mut schöpfen wird. Möglicherweise wird der Bundesrat angstbefreiter in künftige Konflikte mit der EU steigen.

 

Die Zeit spielt für die Schweiz. Bald wird in Grossbritannien ein neuer Premier herrschen. Er dürfte aller Voraussicht nach Boris Johnson heissen.

Boris Johnson hat angekündigt, dass er – anders als Vorgängerin Theresa May – durchaus einen vertragslosen Brexit anstrebt, Hauptsache, raus aus der EU.

Die Briten haben genug von den ständigen Erpressungen und der arroganten Oberlehrer- Attitüde in Brüssel.

Das wäre der nächste Schlag für die EU. Denn selbst wenn die Briten kurzfristig etwas unter dem vertragslosen Brexit litten, die Insel ginge nicht unter.

Höchstwahrscheinlich würde keines der Horrorszenarien, die Brüssel aus Eigeninteresse über den Brexit streut, eintreten. Ähnlich wie auch die Schweiz nach dem EWR-Nein 1992 nicht implodierte.

Die Wahrheit ist: Die EU überschätzt sich. Die Eurokraten tun so, als ob sich alles in Europa nur um sie dreht: Frieden, Wohlstand, Arbeitsplätze – alles nur dank der EU.

Vermutlich ist es etwas komplizierter als diese selbstschmeichlerische Diagnose. Die EU hat ihre Verdienste, und sicher ist der gemeinsame Markt ein Trumpf.

Der Glaube aber, dass Handel und Wirtschaft nur dank den Eurokraten blühen, ist Einbildung. Es sind die Unternehmen, die dank guten Produkten und Dienstleistungen Wohlstand schaffen.

Diese Unternehmen haben Kunden, und diese Kunden kaufen die Produkte nicht deshalb, weil Grossbritannien in der EU ist. Sie kaufen, weil sie die Produkte wollen.

Deshalb kämpft die EU so verbissen gegen die Brexit-Briten und die unabhängigen Schweizer. Europäische Staaten, die ausserhalb der EU Erfolg haben, sind eine Bedrohung für die EU.

Warum eine Bedrohung?

Weil die Schweiz und bald auch die Briten den europäischen Bürgern zeigen, dass es gute Alternativen gibt.

Dass die EU nicht das allein seligmachende alternativlose Paradies ist, als das sie die EU-Staatschefs gelegentlich hinstellen.

Die Eurokraten behaupten, die wachsende EU-Skepsis in Europa, die sie als «populistisch » bezeichnen, sei eine Bedrohung für die Demokratie.

Für die Eurokraten sind nur die Parteien demokratisch, die mehr EU und nicht weniger EU wollen. Für sie ist Demokratie nicht ein Verfahren, sondern eine Gesinnung, vornehmlich die eigene.

In Wahrheit ist es umgekehrt: Die EU-kritischen Parteien sind nicht die Gegner, sondern Symptome des Durchbruchs von mehr Demokratie und demokratischer Vielfalt in Europa.

Der Zeitgeist, der Trend sind gegen die EU. Das grossräumige Gebilde mit den unüberschaubaren Strukturen und Entscheidungen über die Köpfe der Bürger hinweg steht zusehends quer in der Landschaft.

Technologischer Wandel, Digitalisierung sind Treiber der Demokratisierung: mehr Macht für die Kleinen, für die Konsumenten, für die Bürger; weniger Macht für die Mächtigen. Ohne das Westfernsehen wäre die Sowjetunion viel später untergegangen.

 

Der Versuch, die Schweiz mit Hilfe eines Rahmenabkommens enger an die EU zu binden, ist ein Rückfall in die Vergangenheit.

Mehr Freiheit und Eigenverantwortung, weniger EU: Das sind die Forderungen der Stunde, wohin man in Europa blickt.

Rahmenabkommen hiesse, dass in der Schweiz nicht mehr die Schweizer, sondern die Eurokraten bestimmen. Niemand kann das ernsthaft wollen.

Die Schweizer Börse floriert trotz EU-Erpressungen. Grossbritannien wird durch einen vertragslosen Brexit nicht im Meer versinken. Es gibt Leben ausserhalb der Europäischen Union.

Je mehr die Teufelchen verblassen, die die EU an die Wand malt, um ihren Kritikern Angst einzujagen, desto zahlreicher und selbstbewusster werden die Leute, die auf einmal realisieren, dass es ohne Bevormundung aus Brüssel nicht schlechter, sondern besser geht.

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