Weltwoche Editorial 26/20

Editorial

Im Ständestaat

Von Roger Köppel

Regierung, Gewerkschaften, Arbeitgeber und Gewerbe machen gemeinsam mobil gegen die Begrenzungsinitiative.

A

m Montag lancierte der Bundesrat seine Kampagne gegen die Begrenzungsinitiative (BGI). Es war ein denkwürdiger Auftritt. Justizministerin Karin Keller-Sutter nahm nicht das übliche Gefolge an Bundesbeamten und eingebetteten Experten mit. Sie erschien vor den Medien flankiert zu beiden Seiten von den namhaftesten Chefs der Gewerkschaften, des Gewerbes und der Arbeitgeber. Die muskulöse Aufführung sollte beeindrucken und einschüchtern. Seht her, die wichtigsten Wirtschaftsinteressengruppen des Landes zermalmen gemeinsam dieses irrige, verderbliche Initiativbegehren.

Wenn Gewerkschafter, Arbeitgeber, Gewerbler und Regierungen ins gleiche Bett steigen, spricht die Politologie von einem Ständestaat, auch Korporationenstaat genannt. Dieses politische Konzept hatte vor allem zu Beginn des 20. Jahrhunderts viele Anhänger unter den damaligen faschistischen Kampfverbänden gegen den Kommunismus. Ziel war es, die Interessenvielfalt offener demokratischer Gesellschaften im «berufsständischen» Ausgleich zwischen Kapital und Arbeit zu überwinden. Dieses unheilvolle, autoritäre, letztlich freiheitsfeindliche Modell war in der Schweiz nie mainstreamfähig. Dass es der Bundesrat jetzt gegen die BGI reaktiviert, ist ein Zeichen von Geschichtsvergessenheit, mangelhaftem liberalem Bewusstsein, vor allem aber von nackter Angst.

Irgendwie scheinen es sogar die Journalisten gespürt zu haben. Die meisten teilen zwar die bundesrätliche Stossrichtung gegen die Initiative. Doch an ihren Gesichtern war die Skepsis abzulesen, das Theater könnte des Guten vielleicht zu viel sein und auf die Absender zurückschlagen. Oder anders ausgedrückt: Wenn Bundesrat, Gewerkschaften, Gewerbe und Arbeitgeber gemeinsam während über einer Stunde monoton auf das Anliegen einer Partei einhämmern, die im Parlament nur 25 Prozent der Stimmen vertritt, muss die Panik in Bern erheblich sein. Es wirkte wie der Grossangriff einer US-Bomberflotte auf San Marino. Am Ende hatten die Journalisten wenn nicht Sympathie, so doch mindestens ein bisschen Mitleid mit den Kleinen, die an ihrer öffentlichen Hinrichtung mit keinem Fürsprecher vertreten waren.

Egal, wie man zu dem Volksbegehren sachlich steht: Ist es der tiefere Sinn unserer Staatsform, dass der Bundesrat im Verbund mit anderen mächtigen Interessengruppen auf diese Weise einen Propagandateppich ausrollt? Ist es die Aufgabe unserer Landesregierung, während über siebzig Minuten mit den immergleichen, inhaltlich zum Teil hanebüchenen Aussagen auf die Medien einzupredigen, auf dass sie das Evangelium aus Bern im Land verbreiten? Eigentlich sollte der Bundesrat nach Verfassung doch eine gewisse Neutralität wahren, über den Schützengräben stehen und seine Meinungen, wenn überhaupt, dosiert vortragen. Sonst leistet er, wie hier, dem unerfreulichen Eindruck Vorschub, er missbrauche seine Macht und seine hohe Anerkennung für parteipolitische Zwecke.

Die Begrenzungsinitiative will die Zuwanderung in die Schweiz mit dem Instrument der Selbststeuerung begrenzen, wie sie in Artikel 121a der Bundesverfassung seit dem 9. Februar 2014 festgeschrieben, aber nicht umgesetzt worden ist. Eine Mehrheit von Volk und Ständen hat diesen Artikel abgesegnet – nach einem langen Abstimmungskampf gegen den ausdrücklichen Willen und die Mahnungen des Bundesrats, ein solches Ja würde die Schweiz zu einem volkswirtschaftlichen Somalia mitten in Europa machen. Die Angstmacherei hatte nicht verfangen.

Aus Trotz und Verärgerung über die Unbotmässigkeit weigerten sich Bundesrat und eine Mehrheit der Parteien in der Folge, dem Verfassungsartikel nachzuleben. Deshalb haben wir heute die abwegige Situation, dass in der Zuwanderungsfrage die Regierung nicht die Mehrheit, sondern eine Minderheit vertritt. Gemäss Volksentscheid gegen die Masseneinwanderung von 2014 möchte die Mehrheit die Zuwanderung begrenzen. Der Bundesrat und die meisten Parteien, neu vereint mit Gewerkschaften, Gewerblern und Konzernen, setzen hingegen alles daran, den Volksentscheid zu hintertreiben.

Wenn der Bundesrat die Minderheit vertritt, muss er die Minderheit als Mehrheit inszenieren. Das war der tiefere Sinn der Medienkonferenz vom Montag. Sie sollte dem Publikum einen breiten Konsens vorgaukeln gegen das Anliegen, die Zuwanderung, wie es die Verfassung gebietet, selbständig zu steuern wie jedes andere Land auf diesem Planeten. Verschleiert werden sollte ausserdem die Tatsache, dass die auf der Bühne versammelten Organisationen aus nicht ganz uneigennützigen Motiven handeln.

Die Arbeitgeber und Gewerbler sind für die unbegrenzte Masseneinwanderung, weil sie ihnen billige Arbeitskräfte aus dem Ausland bringt. Die Gewerkschaften sind für die Massenzuwanderung, weil sie ihnen mehr Macht und Geld einbringt. Mehr Macht: Mit der Personenfreizügigkeit stieg der gewerkschaftliche Einfluss auf den Arbeitsmarkt massiv. Mehr Geld: Die Gewerkschaften kassieren jährlich Millionen dank den branchenweiten Gesamtarbeitsverträgen im Gefolge der EU-Personenfreizügigkeit. Und der Bundesrat? Er möchte auf keinen Fall den institutionellen Anschluss an die EU gefährden.

Kann San Marino gegen eine US-Bomberflotte siegen? Das Berner Ständestaats-Kartell machte am Montag einen überheblichen, also unsicheren Eindruck. Arbeitgeberpräsident Valentin Vogt putzte andere Meinungen als «Humbug» weg. FDP-Gewerbler Hans-Ulrich Bigler musste seine Kampfbegriffe vom Blatt ablesen («Kündigungsinitiative »). Und Bundesrätin Keller-Sutter repetierte wie auswendig gelernt ihre Falsch-Behauptung, durch die Initiative werde für Schweizer Unternehmen der Zugang zum EU-Markt «gekappt ». Den EU-Marktzugang aber sichert nachweislich das Freihandelsabkommen von 1972, das von der Begrenzungsinitiative nicht betroffen ist.

Gegen die Übermacht organisierter ständestaatlicher Interessen haben die Initianten einen Trumpf, ihre Botschaft: Zu viel ist zu viel. Die Schweiz hat in den letzten dreizehn Jahren netto eine Million Menschen importiert, anteilsmässig Weltrekord. Steigende Bodenpreise, steigende Mieten, sinkende Löhne, mehr Arbeitslosigkeit, mehr Stau, weniger Wohlstand pro Kopf und mehr Umweltverpestung sind die Folgen. Sie sind spürbar vor allem für die Bürgerinnen und Bürger, die am Montag so augenfällig nicht vertreten waren.

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