Weltwoche Editorial 25/20

Editorial

Jakobiner

Von Roger Köppel

Meinungsdespoten und Gesinnungsfanatiker auf dem Vormarsch.

D

ie Bilderstürmer und Rassismusbekämpfer vermitteln ein falsches Bild. Trotz Corona, trotz täglichen Verbrechen, trotz drohender Wirtschaftskrise, trotz der Unausrottbarkeit rassistischer Einstellungen und Straftaten, begangen von Menschen jeder Hautfarbe, ist die Erde kein verfluchter Ort. Im Gegenteil. Wohl noch nie war eine Gegenwart freundlicher zu ihren Bewohnern.

Die weltweiten Lebensstandards stiegen nie schneller als während der letzten Jahrzehnte. Die Extremarmut fiel zu Beginn des 21. Jahrhunderts erstmals unter 10 Prozent der Weltbevölkerung. Vor fünfzig Jahren lag der gleiche Wert bei 60 Prozent. Die globale Ungleichheit ging zurück, weil Afrika und Asien wirtschaftlich schneller wachsen als Europa und die Vereinigten Staaten. Die Kindersterblichkeit ist so tief wie nie. Hunger wurde nahezu ausgelöscht, die Pocken sind ausgerottet, Malaria und Kinderlähmung auf dem Rückzug.

Nicht Umverteilung und Entwicklungshilfe haben diese Wunder vollbracht, sondern der Kapitalismus, gegen den «Black Lives Matter», Antifa und andere radikale Gruppen derzeit plündernd durch die Strassen ziehen. Überbevölkerung und Unterentwicklung schaffen nach wie vor grosse, auch ökologische Probleme. Aber die industrielle Welt ist im Umgang mit den natürlichen Ressourcen deutlich effizienter und sparsamer geworden. Besonders gilt dies für die Landwirtschaft, die mit immer weniger Verbrauch immer mehr Menschen ernährt. Der internationale Freihandel, genannt Globalisierung, hat die Armen reicher und die Reichen noch wohlhabender gemacht.

Wir haben heute weniger Kriege, weniger Völkermorde, weniger Sklaverei, weniger Frauenmisshandlung, mehr Kinderrechte und weniger Gewalt als in allen früheren Epochen. Und natürlich haben wir auch weniger Rassismus, wenn man darunter das systematische Unterdrücken und Abschlachten von Minderheiten versteht, die von der Mehrheit als irgendwie andersartig deklariert werden. In seinem aufsehenerregenden Bestseller «Gewalt » schrieb der kanadische Psychologe Steven Pinker: «Der Rückgang der Gewalt dürfte die bedeutsamste und am wenigsten gewürdigte Entwicklung unserer Spezies sein.» Die Geschichte der Menschheit ist für Pinker die Geschichte eines zivilisatorischen Fortschritts.

Je fühlbarer sich die Welt verbessert, desto schwerer haben es Leute, die uns vom Gegenteil überzeugen wollen. Das ist der Grund, warum die Demonstrationen gegen angebliche Polizeigewalt und Rassismus derzeit so forciert, so verbissen überdreht ausfallen. Die von den Protestlern angeprangerten Missstände haben nur einen beschränkten Wirklichkeitsbezug. Deshalb müssen sie ins Hysterische übertrieben werden. Der grimmige, gewaltbereite Ernst der Kundgebungen hat zum Zweck, Widerspruch zu unterbinden, Kritiker einzuschüchtern. Die Demonstranten wollen nicht überzeugen, sie wollen überwältigen. Ihr Ziel ist ein Klima «repressiver Toleranz». Andersdenkende sollen diffamiert und aussortiert werden.

Die Militanz der linken Moralisierer ist kein Zeichen der Stärke. Die zunehmende Aggressivität rührt auch daher, dass die Linke seit Jahren, und zwar weltweit, an den Urnen verliert. Wo die Demokratie keine Aussicht auf Erfolg mehr verspricht, müssen undemokratische Methoden helfen. Die Gefahr liegt darin, dass sich die etablierten Medien allzu willig den linken Gesinnungsdespoten unterwerfen und sich deren Weltsicht und Wertvorstellungen distanzlos zu eigen machen. Dadurch helfen sie mit, ein beklemmendes, letztlich undemokratisches Klima amputierter Meinungsfreiheit heraufzubeschwören. In der Schweiz lässt sich dieser Vorgang gut beobachten. Die Verlagshäuser Ringier, Tamedia und das staatlich konzessionierte Gebührenfernsehen SRF bilden eine blind harmonierende Meinungsachse im Sinn der linken Agenda.

Die Schweiz ist etwas vernünftiger und bodenständiger als die USA. Aber auch bei uns sind die neuen Jakobiner auf dem Vormarsch. Die Jakobiner waren eine ursprünglich demokratische, kompromissbereite Oppositionsbewegung gegen die absolute Monarchie im Frankreich am Vorabend der Revolution von 1789. Als die Dinge ihren Lauf nahmen, radikalisierte sich die Gruppe unter der Führung Maximilien de Robespierres allerdings massiv.

Die Jakobiner strebten eine durch und durch moralische Gesellschaft an. Die einwandfreie Gesinnung nannten sie Tugend. Und um der Tugend zum Durchbruch zu verhelfen, war der Terror ihr bevorzugtes Instrument und der Andersdenkende zwangsläufig der Böse. Der blosse Verdacht auf eine «falsche» Gesinnung reichte für ein Todesurteil. Die Guillotine wurde zum Schreckenssymbol der jakobinischen Herrschaft.

Das historische Beispiel zeigt, wohin Moralismus und ideologische Verhärtung führen können. In den USA werden im Namen der gerechten Sache Denkmäler gestürzt, Geschäfte geplündert und Polizisten erschossen. Für die Raserei der guten Absicht bildet der Rechtsstaat keine Grenze.

Auch in der Schweiz knicken sie vor den neuen Jakobinern ein. Die Migros nimmt «Mohrenköpfe» aus dem Sortiment. Die Post trennt sich von einer Mitarbeiterin, die auf den sozialen Medien harmlos die Demonstranten kritisierte. Ein St. Galler Polizeidirektor (SP) findet es «erfreulich», wenn sich Protestler über die Corona-Vorschriften des Bundes hinwegsetzen, während Wirte und Gewerbler weiterhin strengste Auflagen befolgen müssen.

Die Geschichte lehrt: Jakobiner lassen sich nicht beschwichtigen. Gibt man ihnen nach, werden sie nur extremer. Die Franzosen hatten erst dann genug, als Robespierre in immer neuen Säuberungswellen auch seine Mitstreiter als «Gesinnungsfeinde» köpfen wollte. Am Höhepunkt seines Terrors wurde der Fanatiker selber aufs Schafott geführt, und der Spuk war zu Ende. So weit sollten wir es nicht kommen lassen.

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