Weltwoche Editorial 23/20

Editorial

China

Von Roger Köppel

Was Donald Trump von Richard Nixon lernen kann.

A

uch die aktuellen Unruhen in den USA sind vor dem Hintergrund mehrfacher, sich verschärfender und gegenseitig aufheizender Polarisierungen im Gefolge von Corona zu sehen. Dass das universell verurteilte Einzelfall-Verbrechen eines kriminellen weissen Polizisten an einem schwarzen Tatverdächtigen eine Art innerstädtischen Bürgerkrieg entfacht, steht in keinem Verhältnis zur Untat am Anfang. Neben politischen Interessen im Vorfeld einer Regierungswahl, Antireflexen gegen den Präsidenten und einem seit der Beendigung der Sklaverei vor 150 Jahren aufgestauten Schuldkomplex wirkt der soziale Corona-Stress wie Benzin im Feuer.

Es hilft nicht, dass Präsident Trump die Brände mit dem Flammenwerfer löschen will. Seine Sprengstoff-Rhetorik, die jede Kritik mit einer Salve an Retourvorwürfen kontert, baut Spannungen nicht ab, sondern auf. Ein Politiker, der eigentlich gar kein Politiker ist und deshalb auf alles reagiert, was ihm angeworfen wird, verpasst die Chance, Angriffe durch Nichtbeachtung ins Leere laufen, sich erschöpfen zu lassen. Der gläubige Präsident sollte häufiger in der Bibel lesen: «Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel; sondern, so dir jemand einen Streich gibt auf deinen rechten Backen, dem biete auch den andern dar.» Indem er dauernd zurückschlägt, hält Trump den Kleinkrieg am Laufen, den er überwinden sollte.

Im gegenwärtigen Corona-Hexenkessel fallen Politiker auf, die es in ähnlichen Situationen besser machten. Brauchbar sind Staatenlenker, die sich für das Wohlergehen ihrer Länder in Wohlstand und Frieden mit allen anderen einsetzen. Als Vorbild fällt einem heute ausgerechnet der verfemte, vom Hof gejagte US-Präsident Richard Nixon ein, der von 1968 bis zu seinem unrühmlichen erzwungenen Rücktritt 1974 die Geschicke der USA in einer aufgewühlten Zeit mit einer Mischung aus Genie und Wahnsinn steuerte.

Klar, Nixon autorisierte Einbrüche, liess Bomben auf neutrale Staaten abwerfen und seine Mitarbeiter abhören. Seine aussenpolitische Leistung allerdings kann nicht hoch genug eingeschätzt werden, und sie muss gewürdigt werden, gerade weil Nixon, als die Krise am Dampfen war, nicht nur über seinen ideologischen Schatten sprang, sondern auch weil es ihm gelang, in einer Zeit der globalen Verhärtung einen fantasievollen und riskanten Ausfallschritt zu mehr Entspannung zu wagen.

1971 stand Nixon am Abgrund. Der Vietnamkrieg war eine blutende Wunde. Rassenunruhen hatten prominente Opfer gefordert. Auf den Strassen marschierten Hunderttausende gegen die Regierung. Die Nationalgarde schoss auf Studenten, und die Medien feuerten mitleidlos auf den Mann im Weissen Haus. In diesem tobenden Chaos lancierte Nixon seine kühnste aussenpolitische Initiative. Kaum jemand hatte es ihm zugetraut. Der berüchtigte Kommunistenfresser und Kalte Krieger stiess die verriegelten Tore zu China auf. Über seinen Stardiplomaten Henry Kissinger liess er dank Erstkontakten einer amerikanischen Pingpong-Nationalmannschaft via Pakistan ein zunächst hochgeheimes Treffen mit Staatsgründer Mao und Regierungschef Zhou Enlai einfädeln. Es kam unter weltweitem Applaus der Verwunderung zustande vom 21. bis 28. Februar 1972.

Nixon und Kissinger waren keine Friedenstauben. Sie sahen sich als knallharte Realpolitiker. Und sie erkannten, dass man ein Land mit über einer Milliarde Einwohnern nicht aussperren kann, sondern einbinden muss in die internationale diplomatische Architektur. Beide überwanden sie damals ihre tiefsitzende Abneigung gegen die steinzeitkommunistische Diktatur, die China unter Mao noch war. Nicht, weil ihnen diese Ideologie oder das System sympathisch geworden wären, sondern, weil sie aus Sorge um den internationalen Frieden handelten.

Was zu Nixons Zeiten richtig war, kann heute nicht falsch sein. China hat sich reformiert und dem Westen angenähert. Ohne die chinesische Wirtschaft stottert der weltweite Wohlstandsmotor. Trotzdem hat die Pandemie antichinesische Ressentiments erhitzt. Wir massen uns nicht an, den Amerikanern zu erklären, wie sie mit der werdenden Supermacht im Osten umgehen sollen, aber wir vermuten, dass der Ansatz von Nixon mehr bringt als eine auf Konfrontation gebürstete Strategie der demütigenden Überheblichkeit und Ausgrenzung. Vielleicht kann ja die Schweiz einen kleinen Beitrag zur Verständigung leisten, ohne sich anzubiedern oder aufzuspielen.

Auf die Gefahr hin, kitschig zu werden: Die Corona-Krise hat die Notwendigkeit von Grenzen und Nationalstaaten deutlich gemacht, aber eben auch den Sinn einer internationalen Zusammenarbeit auf der Grundlage eines minimalen Vertrauens. Ein falscher Internationalismus träumt von der Auflösung aller Grenzen und Staaten. Ein vernünftiger Internationalismus anerkennt, dass es unterschiedliche Staaten mit unterschiedlichen Interessen gibt, und das Beste, was wir hoffen können, ist, dass diese Staaten unabhängig voneinander in Frieden leben und zum gegenseitigen Vorteil zusammenarbeiten.

In der Schweiz wird der Ruf nach einer robusteren «China-Strategie» lauter. Dahinter steckt die Absicht, der finanziell potente Kleinstaat möge sich vernehmlicher kritisch gegenüber China und seinen realen und angeblichen Verfehlungen äussern. Die Heldenpose moralischer Vorhaltungen mag Schlagzeilen produzieren, gute Resultate bringt sie nicht. Die Schweiz sollte ihre wohlwollende Neutralität gegenüber China pflegen. Es ist eine Stärke, wenn man sich als einziges Land einem verbreiteten, wenn auch falschen moralischen Reflex verweigert.

Nixon und Kissinger wurden nach ihrer Rückkehr aus Peking heftig kritisiert: «Mao bekam Taiwan, wir bekamen Frühlingsrollen.» Der US-Präsident habe dem Grossen Vorsitzenden zu sehr nachgegeben. Fast vier Jahrzehnte später erinnerte sich Kissinger: «Wir haben eine knifflige Klippe für eine Generation umschifft. Die USA und China haben freundschaftliche Beziehungen bewahrt, und Taiwan ist, dank unserer Hilfe, stark und demokratisch geblieben.» Nixons Entgegenkommen hatte sich für beide Seiten gelohnt.

PS: Nixon wurde 1972 erdrutschartig wiedergewählt. Die gewalttätigen Massendemonstrationen hatten ihm nicht geschadet, sondern genützt.

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