Weltwoche Editorial 22/20

Editorial

«Wer nicht reich ist, braucht einen starken Staat»

Von Roger Köppel

Der frühere Vorsitzende der SPD Sigmar Gabriel über Kanzlerin Merkel, die Wirtschaftskrise, den Niedergang der internationalen Sozialdemokratie und seinen Vater, der bis zu seinem Tod vor acht Jahren ein überzeugter Verfechter der Nazi-Diktatur war.

W

ir erreichen den früheren SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel zu Hause in der niedersächsischen Traditionsstadt Goslar. Der 1959 geborene Lehrer gehörte während Jahrzehnten zu den prägenden Figuren der SPD, als Vorsitzender, Aussenminister, Wirtschaftsminister, unter anderem. Er verkörperte den wirtschaftsnahen Flügel. Den Parteilinken war er zu wenig links. Es krachte. Gabriel aber erfand sich neu. Heute sitzt er im Aufsichtsrat der Deutschen Bank und ist als Redner und Publizist gefragt.

Herr Gabriel, nach einer politischen Musterkarriere, die 1976 begann, als Sie 18-jährig waren, kehrten Sie der Politik im letzten Jahr den Rücken und traten aus dem Bundestag zurück. Wie sehr schmerzt es Sie, dass Sie in dieser historischen Ausnahmesituation kein politisches Amt mehr bekleiden?
Der Trennungsschmerz hält sich sehr in Grenzen. Mir gefällt, was ich jetzt mache.

Wie ist Ihr aktueller Gemütszustand?
Menschen wie ich, muss man sagen, leben in einer sehr privilegierten Situation. Ich habe ein grosses Grundstück, einen Garten, das Wetter ist erfreulich. Ich habe die sieben oder acht Wochen hier mit meinen Kindern im Home-Office verbracht. Persönlich habe ich das eher als angenehme Zeit der Entschleunigung wahrgenommen. Anderen Menschen geht es weit schlechter. Aber wenn man sich von den eigenen Luxusproblemen löst: Es ist eine sehr bedrohliche Lage für die Volkswirtschaften. Keiner weiss, wie die Menschen auch in meinem Land auf eine dauerhafte, tiefe Krise reagieren.

Wie schlimm sind die Herzrhythmusstörungen der Weltwirtschaft?
Leute, die im Bankensektor tätig sind, sind von Berufs wegen Optimisten. Wie will man sonst eine solche Krise durchstehen? Im Unterschied zum Optimisten sieht der Realist nicht nur das Paradies, sondern auch die Schlange darin. Von daher versuche ich, Realist zu sein. Konkret: Die Vereinigten Staaten haben eine Arbeitslosigkeit von 25 Prozent. Das ist zum letzten Mal bei der Great Depression der Fall gewesen. Hier in Deutschland haben wir auch noch nie eine solche Wirtschaftskrise erlebt. Die ganze Welt wird ärmer. Das trifft die Ärmsten am härtesten. Und es wird uns viel, viel Mühe kosten, wieder ein Vorkrisenniveau zu erreichen.

Sie waren jahrelang Angela Merkels Vizekanzler. Wie beurteilen Sie Ihre frühere Kollegin?
Sie hat das sehr gut gemacht. Wir Deutschen haben das Glück, eine krisenerprobte Kanzlerin zu haben: Ukrainekrise, Griechenlandkrise, Flüchtlingskrise. Ich kenne die Kritik an Merkel, aber sind wir mal ehrlich: Sie hat das Schiff Deutschland auf stürmischer See sehr gut auf Kurs gehalten.

Was zeichnet sie aus?
Weder erschrickt sie gleich vor einer Aufgabe, noch lässt sie sich von anderen schwindlig reden. Sie scheint in sich zu ruhen.

Sigmar Gabriel

Die EU habe «vollständig versagt », sagen Sie. Was genau kritisieren Sie?
Dass sie über Wochen, wenn nicht Monate gar nichts gemacht hat. Die Menschen haben eines erlebt: In der Krise handelt der Nationalstaat. Dagegen ist an sich nichts zu sagen. Aber es hätte viel früher europäische Initiativen für die am härtesten betroffenen Mitgliedsstaaten geben müssen. Zum Beispiel bei der Frage: Wer braucht welche medizinische Hilfe, und woher bekommen wir das? Deutschland hat am Anfang einen Exportstopp für medizinisches Gerät verhängt, als in Italien die Menschen schon reihenweise gestorben sind. Völker haben ein gutes Gedächtnis, und es war erschreckend, dass vor wenigen Wochen 45 Prozent der Bevölkerung Italiens in Deutschland ihren grössten Feind gesehen haben und über 50 Prozent in China den grössten Feind.

Wie wird das Aufleben des Nationalstaats die EU verändern?
Die Europäische Union wird lernen, dass Nationalstaat und europäisches Handeln kein Widerspruch sind. Wir brauchen starke Nationalstaaten, aber auch wirkungsvolle Zusammenarbeit dort, wo der Nationalstaat überfordert ist. Ich habe nie verstanden, warum das Europa der Vaterländer eigentlich ein Widerspruch sein soll zu der Europäischen Union. Es wird keine Vereinigten Staaten von Europa geben. Aber es gibt in Europa einen unsichtbaren Kitt, der den Laden zusammenhält. Alle wissen doch insgeheim: Es kommt besser, wenn gemeinschaftlich gehandelt wird.

Welche Welt kommt auf uns zu? Man hat den Eindruck, die Spannungen steigen überall.
Das Virus wirkt wie ein Brandbeschleuniger. Neu ist nichts, aber das Virus zeigt uns unbarmherzig unsere Schwächen. Unsere grösste Schwäche: Es gibt keine internationale Ordnung mehr. Nach der Finanzkrise gab es das noch. Nach Corona sehe ich nichts davon. Die Vereinigten Staaten haben sich zurückgezogen als Gralshüter der liberalen Weltordnung. China ist nicht in der Lage, diese Rolle zu übernehmen, obwohl sie es vielleicht wollen. Europa ist zu sehr mit sich beschäftigt. Ich glaube, dass wir noch eine ganze Weile mit dieser Welt werden leben müssen.

Was kann Europa tun, um die Weltlage zu verbessern?
Die EU müsste sich zu einer gemeinsamen Haltung gegenüber China durchringen. Meines Erachtens kann man ein Land wie China nicht aussperren, wie dies die Amerikaner wollen. Ein 1,4-Milliarden-Volk können Sie nicht unter Hausarrest stellen. Wir haben in der Geschichte gesehen, dass die gezielte Ausgrenzung bedeutender Zivilisationen zum Krieg führen kann. Ich glaube übrigens nicht, dass China die Welt erobern will. Ich sehe eher den Versuch der Kommunistischen Partei, durch eine wirtschaftliche Expansionspolitik den Wohlstand so abzusichern, dass die KP noch möglichst lange am Ruder bleibt. Donald Trump hat sicher recht, dass sich China über viele Regeln hinwegsetzt und Multilateralismus à la carte betreibt. Aber einsperren wird man China nicht können. Besser wäre, durch Zusammenarbeit zwischen den USA, Europa, Südkorea, Japan, Australien und Neuseeland China einzubinden und wo nötig auch zu disziplinieren. Decoupling ist eine Strategie, die zu nichts führt.

Ein politischer Hochrisikopatient ist die Sozialdemokratie. Kann die SPD wieder zur Volkspartei werden?
Die Idee der Sozialdemokratie ist genauso lebendig wie vor hundert Jahren. Die Frage ist allerdings, ob das derzeitige Gefäss, in dem diese Idee die letzten 150 Jahre transportiert wurde, noch dafür geeignet ist. Die Vorstellung, dass die Menschen frei sein sollen, nicht nur frei von Not und Unterdrückung, sondern frei, aus ihrem Leben etwas zu machen, und zwar unabhängig von Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht und Reichtum der Eltern. Am Ende muss jeder sein eigenes Leben selbst führen, aber die Politik sollte Bedingungen schaffen, unter denen jedes Leben gelingen kann.

Wo liegt das Problem?
Wenn die SPD in die Regierung kommt, macht sie eine gute sozial-liberale Politik. Wenn sie aber Programme beschliesst, dann können die nicht links genug sein. Daraus entsteht der permanente Streit zwischen grossen Teilen der linken Funktionäre und der Regierungs- SPD. Dieses Schisma hat die SPD inzwischen weitgehend aufgerieben. Mittlerweile ist sie so klein geworden, dass sie nur noch eine Funktionspartei ist, die ähnlich der FDP nur noch ab und zu gebraucht wird, um Mehrheiten für die CDU/CSU zu beschaffen, damit die den Kanzler stellen kann. Das aber ist auf Dauer zu wenig. Die deutsche Sozialdemokratie bräuchte ein zweites Godesberg: Wie 1959 braucht sie einen programmatischen Neuanfang, der sie in die Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts holt. Würde sie sich offensiv als eine europäische und international orientierte sozialliberale Partei verstehen, hätte sie auch eine Chance, wieder deutlich stärker zu werden. Solange sie linker als die Linkspartei oder grüner als die Grünen sein möchte, wird das nicht gelingen. Man wählt nicht die Kopie, sondern dann lieber das Original.

Altkanzler Schröder nannte Sie das grösste politische Talent der Realo-SPD. Was hat es zu bedeuten, dass jemand wie Sie nicht mehr dabei ist?
Ich selbst bin, glaube ich, nicht so wichtig. Für mich begann der Niedergang der SPD mit den zeitlich versetzten Austritten von Oskar Lafontaine und dann von Wolfgang Clement. Die SPD hatte mit dem Verlust dieser beiden Repräsentanten ihre Spannkraft verloren. Seither versucht sie immer weniger den gesellschaftlichen Spannungsbogen zwischen «linken» und «rechten» Sozialdemokraten zu halten. Es ist ihr offenbar zu anstrengend geworden. Inzwischen muss die Partei aufpassen, dass sie nicht zur linken Sekte wird. Es dominieren Leute, die linksradikale Reden halten können, damit sie auf Parteitagen einen Listenplatz ergattern, die aber noch nie einen Wahlkreis erobert haben und es wohl auch nie schaffen werden. Recht haben ist für sie wichtiger, als bei Wahlen recht zu bekommen.

Sie haben einmal die dänischen Sozialdemokraten um Mette Frederiksen als Vorbild bezeichnet – weil sie keine Angst vor den Rechtspopulisten hätten.
Ich finde auf jeden Fall, es lohnt sich, mit den dänischen Sozialdemokraten zu reden. Da hat etwas stattgefunden, was wir überall in der Welt merken. Die letzten dreissig Jahre hiess es: Globalisierung bedeutet die Öffnung aller Grenzen – für Kapital, Daten und für Menschen. Der Markt soll die Dinge regeln, Privat vor Staat. Die dänischen Sozialdemokraten haben nach dieser Öffnung aller Grenzen die Frage aufgeworfen, wo eigentlich die Grenzen der Öffnung liegen. Dabei geht es um weit mehr als um Migration. Letztlich geht es um die Frage, wie in einer Welt der Freiheit zugleich Sicherheit gewährleistet werden kann – soziale ebenso wie innere Sicherheit. Ich kann nur raten, dies zum Thema zu machen. Nur ganz reiche Leute können sich einen schwachen Staat leisten. Wer nicht reich ist, braucht einen starken Staat.

Kommen wir zu Ihnen: Sie sind sehr schlagfertig, rhetorisch äusserst beschlagen. Gelernt oder angeboren?
Ich habe auf jeden Fall nie ein Rhetorikseminar besucht, wenn Sie das meinen.

Hatten Sie immer schon diese leicht überlegene, lächelnde Gelassenheit?
Nein, die Gelassenheit hat sich erst in den letzten Jahren herausgestellt. Ich vermute, das ist ein ganz normaler Alterungsprozess.

Als junger Schüler seien Sie verhaltensauffällig gewesen. Wie das?
In dem Viertel, in dem ich aufgewachsen bin, ging es schon etwas rauer zu. Mein Abitur habe ich erst später gemacht. Ich wurde noch eingeschult in der Mittelschule für Knaben, nach neun Jahren hiess es: «Jetzt muss Geld reinkommen.» Und das galt in meinem Stadtviertel schon als etwas Besonderes. Alle anderen durften nicht mal das. Das machte mich vielleicht etwas strassenkampftauglicher.

Sie mussten arbeiten, um nach oben zu kommen.
Das ist vielleicht ein Problem der heutigen Parteien: Wir alle sind doch weitgehend Profiteure der sozialdemokratischen Aufstiegspolitik. In meiner Generation haben viele noch ihren Weg über den zweiten Bildungsweg machen müssen. Das ist viel anstrengender. Dann kamen die sozialdemokratischen Bildungsreformen, und heute haben wir in den Parlamenten relativ viele Akademiker, was nicht gegen Akademiker spricht. Aber Polizisten, Krankenschwestern, Facharbeiter, Handwerksgesellen sind seltener geworden. Da sind viel Wissen und Lebenserfahrung verlorengegangen.

Woher kommt bei Ihnen die Ur-Faszination für die Politik?
Dinge zu verändern: Das zog mich an. Es gab einen 100-jährigen Sozialdemokraten, Karl Richter. Er wurde kurz vor seinem Tod 2005 gefragt: «Karl, nach hundert Jahren, was ist das Ergebnis deines Lebens, was ist die Weisheit deines Lebens?» Seine Antwort finde ich bis heute ein gutes Lebensmotto: «Du musst das Leben nehmen, wie es ist. Aber du darfst es nicht so lassen.» Darum geht es.

Sie haben eine bemerkenswerte Familiengeschichte. Ihr Vater, der 2012 verstarb, war bis zuletzt ein uneinsichtiger Anhänger der Nazi- Diktatur. Wie hat Sie dieser Konflikt geprägt?
Als ich knapp zehn Jahre alt war, wurde gerichtlich verfügt, dass meine Mutter das Sorgerecht bekam. Wäre das nicht passiert, wäre nichts aus mir geworden. Mein Leben, wie es geworden ist, habe ich meiner Mutter zu verdanken.

Haben Sie mit Ihrem Vater über Politik gesprochen?
Es war unmöglich. Er wollte mich immer überzeugen, dass ich nur ein Opfer amerikanischer Umerziehung sei. Auschwitz habe es nicht gegeben, die Juden und die Polen seien am Zweiten Weltkrieg schuld. Und Hitlers grösster Fehler sei es gewesen, dass er nicht mit den Amerikanern gegen die Russen kämpfte. Gespräche über etwas anderes waren mit ihm unmöglich.

War er nicht stolz auf seinen Sohn, der es zu einem der bekanntesten deutschen Politiker gebracht hatte?
Er hat auf jeden Fall in allen möglichen rechtsradikalen Zeitschriften versucht, meine politischen Tätigkeiten zu kritisieren.

Sie haben einmal gesagt, Sie würden sich selber misstrauen – wegen Ihres Vaters.
Ich war die ersten zehn Jahre bei meinem Vater. Das sind prägende Jahre für Kinder, wie wir wissen. Da fragt man sich schon: Was von ihm ist in mir geblieben?

Sie haben drei Töchter: Was wollen Sie ihnen auf den Weg geben?
Ich hoffe, dass ich ihnen Optimismus, Mut und Lebensfreude mitgeben kann. Und: die Fähigkeit, dauerhafte Freundschaften zu schliessen. Weil es gibt Situationen im Leben, bei denen man Hilfe und Begleitung braucht.

Auf welche Leistung von Ihnen sind Sie besonders stolz?
Auf meine drei Töchter.

Sie sind sechzig Jahre alt: Wie sieht Ihre Zukunft aus? Was erhoffen Sie sich? Worauf freuen Sie sich?
Ach, ich mache ja noch eine ganze Reihe an Dingen. Auch in der internationalen Politik. Die machen mir auch Spass. Ich kann meine Kinder etwas näher begleiten. Das war früher unmöglich.

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