Weltwoche Editorial 20/20

Editorial

Übermacht

Von Roger Köppel

Es ist leichter, eine Diktatur zu installieren, als sie wieder abzuschaffen.

D

ie Corona-Pandemie, wenn es denn eine war, ebbt ab. Zur Katastrophe kam es nicht. Die Kurven sind so flach wie nie. Sogar das Tessin meldet weder Neuansteckungen noch weitere Todesfälle. Die Horrorprognosen blieben Fantasie. Hat sich im anfänglich überrumpelten Südkanton bereits so etwas wie «Herdenimmunität» ereignet?

Der Kanton Zürich schreibt insgesamt 126 Todesfälle der Seuche zu. Rechnen wir die Zahl zurück auf den 20. Februar, als hier alles begann, kommen wir auf 1,5 Corona-Verstorbene pro Tag. Das ist erstaunlich wenig. Eine starke Grippewelle fordert mehr Opfer. Von «Übersterblichkeit » kann keine Rede sein.

Immer klarer sehen wir das Gefahrenprofil des neuen Erregers. Entscheidender als das Alter ist die Vorerkrankung. Der Bund liegt falsch, wenn er die Risiko-Guillotine bei 65 Jahren ansetzt. Nach heutigem Wissen steigt die Gefährdung erst ab 78 Jahren deutlich an. Eine Corona-Politik, die gesunde Junge und kranke Alte gleich behandelt, kann nicht richtig sein.

Immerhin macht es die Schweiz weniger schlecht als andere. Die USA schmoren bis auf weiteres im scharfen Lockdown. Spanien und Italien haben sich zu grossflächigen Gefängnissen eingemauert. In Südkorea werden alle positiv auf Covid-19 Getesteten sofort aus ihren Familien herausgerissen und in staatlichen Quarantänezellen von Medizinern in Mondanzügen überwacht.

Die Schweiz hat auf Ausgangssperren verzichtet. Anders als in New York gab es keine Propaganda- und Überwachungsdrohnen. Sogar einzelne Sportplätze blieben offen, während die Stadtregierung von Los Angeles die Skateboard-Bahnen am Meer mit Sand zubaggern liess. Der Bund bewies beim Einstieg in die Krise Augenmass. Jetzt aber droht er den Ausstieg zu vermasseln.

Lassen wir uns von den Jubelmeldungen über geöffnete Restaurants und Buchhandlungen nicht einlullen. Die Schweiz ist eine Corona-Diktatur. Nach wie vor. Der Bundesrat regiert per Dekret. Die Volksrechte sind ausser Kraft. Die Behörden schreiben den Leuten vor, wie sie sich im Alltag und im Geschäft zu verhalten haben. Man lässt sich Zeit. Erst am 27. Mai geruht die Regierung, über weitere Massnahmen – nachzudenken.

Zum ersten Mal erleben viele Schweizer den zwangsläufigen Unsinn einer Planwirtschaft. Es gibt eine ernsthafte Debatte darüber, ob man in Modegeschäften das Anprobieren von Schuhen und Kleidern verbieten soll. Restaurants dürfen aus Infektionsgründen keine Zeitungen auflegen, aber mitbringen können sie die Gäste offenbar. Und untereinander austauschen?

Besonders schwer haben es jetzt die Tennislehrer. Sie müssen sicherstellen, dass beim Servicetraining ihre Kunden nach jedem Aufschlag die Wurfhand desinfizieren. Gibt es Studien, die beweisen, dass man sich im Freien durch die Berührung eines Filzballs eine tödliche Dosis Viren holen kann? Sind Tennisbälle ansteckend? Die Verstaatlichung des Lebens tritt in die Sphäre des Absurden.

Vielleicht wäre alles etwas erträglicher, wenn der Bundesrat erklären könnte oder wollte, nach welchen Kriterien er handelt. Zuerst hiess es, der Lockdown sei nötig, um den Zusammenbruch des Gesundheitswesens mit unabsehbar vielen Toten zu verhindern.

Als der Zusammenbruch ausblieb, rechtfertigten die Behörden die Fortführung des Ausnahmezustands mit dem Argument, man wolle eine zweite Welle stoppen. Mittlerweile hält der oberste Gesundheitsbeauftragte des Bundes, Daniel Koch, auch dieses Szenario für unwahrscheinlich.

Welche Begründung kommt als Nächstes? Es ist leichter, eine Diktatur zu installieren, als sie wieder abzuschaffen. Nur ungern trennen sich die Regierenden von der Herrlichkeit ihrer Vollmachten. Die überbremste, antizentralistische Alpenanarchie Schweiz leistet Herrschaftsgelüsten systembedingt stärkeren Widerstand, doch auch hier kommen Politik und Verwaltung auf den Geschmack.

Man kann es bedauern oder bewundern: Schneller noch als Viktor Orbán in Ungarn schaltete der Bundesrat im Corona-Notfall von Ohnmacht auf Übermacht.

Nur: Wie kommen wir aus dem Schlamassel wieder heraus? Jede weitere Woche Freiheitsnarkose kostet die Schweiz drei bis fünf Milliarden. Bis Ende Jahr steigen die Bundeskosten und -garantien auf gegen hundert Milliarden. Offensichtlich haben die Mächtigen von Bern die Nebenwirkungen ihrer Medizin unterschätzt.

So jedenfalls drückt es Nationalbankpräsident Thomas Jordan aus. Er rechnet mit einer Depression wie in den dreissiger Jahren. Sind die trüben Wirtschaftsprognosen ähnlich falsch wie die Weissagungen zu Corona? Sicher ist: Je länger wir warten, desto wahrscheinlicher treten Jordans Befürchtungen ein.

Allmählich dämmert es einigen Parlamentariern. Die Sondersession von letzter Woche war ein Flop, Theater, eine Simulation von Demokratie in den trostlosen Beton-Weiten einer umfunktionierten Messehalle. Hinterher nickten die Volksvertreter die Notmassnahmen des Bundesrates ab, die er ohne Parlament beschlossen hatte. Der Volkskongress applaudierte der Weisheit seiner Führer. Erfolgreich wälzten die Regierenden Teile ihrer Verantwortung ab.

«Wir haben uns blenden lassen», resümiert der querdenkende CVP-Ständerat Beat Rieder: «Das Parlament hätte über den Ausstieg aus dem Notregime beraten müssen.»

Stattdessen gab es Debatten für die Galerie und noch mehr Milliarden aus Bern. Nichts sichert dem Politiker ein Bewusstsein seiner eigenen Bedeutung so sehr wie das Ausgeben von Geld, das andere verdienen müssen.

Zum Glück sind die Völker oft klüger als ihre Regierungen. Immer weniger Schweizer haben Lust auf ein politisches Experiment, das die Weltwirtschaft ins vorindustrielle Zeitalter zurückzuwerfen droht, als die durchschnittliche Lebenserwartung bei 35 Jahren lag. Es ist höchste Zeit, den Lockdown zu beenden.

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