«Wie die Verheissung der zehn Gebote»
Von Roger Köppel, Mitarbeit: Roman Zeller
FDP-Politiker Wolfgang Kubicki, Vizepräsident des Bundestags, kritisiert die Corona-Massnahmen als unverhältnismässig. Der Staat sei nicht Wohltäter, sondern Verursacher gigantischer wirtschaftlicher Schäden. Deutschland solle weniger schulmeisterlich auftreten.
aben die Staaten wegen Corona verfassungsmässig gehandelt? Waren die massiven Beschneidungen der Freiheitsrechte angemessen? Wo bleibt der Widerstand der Liberalen? Wir haben den Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages angerufen für eine Standortbestimmung aus freiheitlicher Sicht. Wolfgang Kubicki hat sich mit kritischen Voten in die Schlagzeilen katapultiert. Seine in glasklare Sätze gemeisselten Worte haben Gewicht. Der 68-Jährige ist eine der interessantesten politischen Persönlichkeiten Deutschlands – mit Bezug zur Schweiz. Eine seiner Töchter lebt in der Nähe von Chur. Kubicki, Volkswirt und Rechtsanwalt, Aufsteiger aus bescheidenen Verhältnissen, ist ein leidenschaftlicher Kämpfer für die EU. Er setzt sich auch für tiefere Steuern und weniger Staat ein. Mit seiner Frau Annette, einer Strafrechtlerin, lebt er im hohen deutschen Norden in der Nähe von Kiel.
Herr Kubicki, Sie sind einer der pointiertesten Kritiker des deutschen Lockdowns. Welche Reaktionen erleben Sie in diesen Zeiten unkritischer Regierungstreue?
Ich erlebe eine harte Polarisierung. Viel Zustimmung, doch ich werde auch massiv angefeindet, weil ich die Aussagen von Wissenschaftlern kritisch hinterfrage. Das aber ist nötig angesichts der massiven Freiheitseinschränkungen. Die Modellrechnungen sollten wir nicht als sakrosankt ansehen. Am Schluss geht es um die Frage: Beruht das staatliche Handeln auf einer gesetzlichen Grundlage? Ich glaube, eine Vielzahl der Massnahmen sind rechtlich, aber auch faktisch nicht begründet und müssen aus verfassungsrechtlicher Sicht ein Ende nehmen.
Was hat Sie während der letzten Wochen am meisten geärgert?
Der unkritische Journalismus in Deutschland. Die Pressekonferenzen der Kanzlerin, der Ministerpräsidenten oder die täglichen Wasserstandsmeldungen des Robert-Koch-Institutes wurden wie die Verheissung der Zehn Gebote hingenommen.
Sind die Notrechtsmassnahmen Ihrer Regierung noch durch das deutsche Grundgesetz gedeckt?
So pauschal kann man das nicht sagen. Einige Gerichte haben in der Tat festgestellt, gewisse Massnahmen seien verfassungswidrig. Die Aufgabe der Regierung besteht ja nicht nur darin, mit der Krise fertig zu werden. Ihre Pflicht ist es, Massnahmen zu ergreifen, die so schnell wie möglich in einen Normalzustand zurückführen. Bürger sollen ihre Rechte wahrnehmen können, statt darum betteln zu müssen. Allerdings: Die Leute beginnen sich zu wehren.
Bill Gates sagte, diese Pandemie sei ein historisches Ereignis. Das Coronavirus mit seiner Gefährlichkeit werde uns noch jahrelang begleiten und bedrohen. Für wie gefährlich halten Sie die Pandemie?
Wie gefährlich das Virus ist, weiss ich nicht. Ich verharmlose es nicht. Was ich weiss, ist, dass die Lockdowns mit jedem Tag, den sie dauern, messbare und fassbare Verheerungen anrichten im Leben der Menschen. Vor allem die Kinder und Familien wurden von der Bundesregierung kaum in den Blick genommen. Was abstrakt «Wirtschaft» genannt wird, ist die Existenzgrundlage unserer freiheitlichen Welt.
Alle Augen sind wirtschaftlich auf die Deutschen gerichtet, weil die Deutschen am Ende die EU zahlen. Wie schlimm wird die Rezession, die Depression, die auf Deutschland zukommt?
Die Einschnitte werden so massiv sein, dass wir uns alle wundern werden. In spätestens acht Wochen werden wir keinen Wirtschaftseinbruch, sondern einen Wirtschaftszusammenbruch erleiden. Ich bin mir sicher, die Regierung wird in sechs bis acht Wochen mit Tränen in den Augen vor uns stehen, um zu erklären: «Leute, das wird eine bedauerliche Geschichte für Deutschland, für Europa.»
Waren die Lockdowns ein gutgemeinter Irrtum?
Wir werden sehen. Die Zeitdauer jedenfalls macht mich sprachlos. Mit jedem Tag, mit jeder Woche verlieren wir dramatisch an Bruttoinlandprodukt, mit der Folge, dass sich die Wirtschaft nicht schnell wieder erholt. Was ich immer wieder sage und was damit zusammenhängt: Das Gesundheitssystem, unser Sozialsystem können nur durch eine leistungsfähige Wirtschaft finanziert werden.
In den USA haben wir innerhalb von fünf Wochen rund dreissig Millionen zusätzliche Arbeitslose. Steuern wir auf eine Depression wie nach 1929 zu?
Wir müssen jedenfalls alles tun, damit sich dies nicht wiederholt. Aber ich befürchte tatsächlich einen wesentlich grösseren wirtschaftlichen Schaden als das Bundeswirtschaftsministerium. Stand heute, reden wir von zweieinhalb bis drei Millionen Arbeitslosen in Deutschland. Das wird unsere sozialen Systeme an den Rand der Verzweiflung treiben.
Sie sind der einzige deutsche Parlamentarier, der von einer Staatsmassnahmenkrise spricht. Der Staat müsse wegen der Schäden seiner Politik Schadenersatz leisten.
Genau, der Staat leistet keine Hilfe, er verursacht Schaden. Wenn mir der Staat die Ausübung meines Geschäftes untersagt, aus Gründen des Infektionsschutzes, dann muss er für die Schäden aufkommen, die daraus entstehen. Bei den Linken geht das gar nicht erst rein, bei den Vernünftigen aber habe ich hundertprozentige Zustimmung.
Wo ziehen Sie als Liberaler die Linie zwischen berechtigten Schadenersatzforderungen und einem sozialistischen Anspruch auf staatliche Rundumversorgung dank Corona?
Die staatliche Aufgabe besteht darin, weiteren Schaden möglichst zu verhindern. Die Menschen müssen schnellstmöglich auf eigenen Beinen stehen, um selbst wieder zu wirtschaften. Wir müssen an den Punkt kommen, dass der Staat überhaupt wieder in die Lage kommt, Schadenersatz zu zahlen. Dazu braucht es eine wettbewerbsfähige Marktwirtschaft.
Die Pandemie könnte vor allem für Entwicklungs- und Kriegsländer fatale Auswirkungen haben. Flüchtlingslager sind besonders gefährdet. In Griechenland leben rund 100 000 Migranten in Lagern. Auf engstem Raum, dicht gedrängt. Was heisst das für Deutschland, für die EU?
Eine Migrantenwelle im Zentrum von Europa halte ich derzeit für ausgeschlossen. Alle Länder haben ihre Grenzen geschlossen. Wichtig ist, dass Europa – auch die Schweiz – ein Interesse daran hat, die gesundheitliche Versorgung von Menschen in italienischen und griechischen Lagern zu verbessern. Wir können nicht zulassen, dass Menschen sterben, weil die gesundheitliche Versorgung nicht ausreicht.
Sollen die reichen Staaten Mitteleuropas die Migranten aufnehmen?
Ich bin diesen Vorschlägen wenig zugeneigt. Ich glaube, Italien und Griechenland kann es mit der Hilfe der WHO und den anderen europäischen Ländern gelingen, die Betreuung vor Ort vorzunehmen.
Was halten Sie vom Krisenmanagement der EU?
Die EU ist bei der Krisenbewältigung nicht gross aufgefallen. Leider. In den letzten sieben Wochen sind die Risse innerhalb der EU tiefer geworden. Mehr Europa wäre sinnvoll und notwendig gewesen; was wir aber erlebten, war weniger Europa.
Wie interpretieren Sie diese beunruhigende Tatsache?
Ich bedaure das zutiefst. Aus deutscher Sicht: Wir schimpfen über Herrn Orbán, rümpfen die Nase über Herrn Kurz, haben den damaligen italienischen Innenminister Salvini abgelehnt und so weiter. Die Tatsache, dass Deutschland innerhalb Europas wie ein Schulmeister auftritt und anderen Ländern immer sagt, wie sie sich sinnvollerweise moralisch verhalten sollen, führte nicht dazu, die Vertrauensbasis zu erweitern. Sie hat zu einem Vertrauensverlust geführt. Deutschland sollte demütiger und respektvoller mit anderen umgehen und weniger hochnäsig durch die Gegend stolzieren.
Wie gut macht es Frau Merkel? Ihre Nüchternheit ist wohltuend.
Einverstanden. Angela Merkel hat in den letzten fünfzehn Jahren viel Gutes bewirkt, auch in Europa. Ich mag ihre Unaufgeregtheit. Ihre Verdienste in der Finanzkrise sind gross. Dann aber schaute sie zu sehr auf ihre Rolle in den Geschichtsbüchern. Sie spielte eine unglückliche Rolle in der Flüchtlingskrise, ihr Management blieb mangelhaft. Jetzt will sie diese Scharte auswetzen. In der Corona-Krise offenbart sie als Physikerin für mich aber eine erstaunliche Geringschätzung der Wirtschaft und der Freiheit. Sie hat die Familien und Kinder komplett vergessen. Ich bin mir nicht sicher, ob die Euphorie, die Angela Merkel momentan entgegenströmt, in ein paar Wochen noch so vorhanden sein wird.
Wie wird das Coronavirus die Welt, Europa verändern?
Die Pandemie hat China gestärkt, nicht geschwächt. China hat mit seinem Kapital die Möglichkeit, sich in westliche Firmen einzukaufen, deren Wert aufgrund des Lockdowns dramatisch gesunken ist. Der chinesische Einfluss wird wachsen. Und im Westen kopieren wir chinesische Methoden, um die Pandemie zu bannen. Freiheitsrechte gelten plötzlich als verhandelbar. Demokratien mauern sich freiwillig in ihren Shutdowns ein und versuchen kaum, eine gesunde Balance zwischen Sicherheit und Freiheit zu finden. Das finde ich verrückt, auf jeden Fall bedrohlich.
Schlägt jetzt die Stunde der Liberalen in Deutschland? In einem Jahr sind Wahlen. Sie müssen aber noch Boden gutmachen.
Wir werden alles daransetzen, Freiheit, Marktwirtschaft und Bürgerrechten wieder Geltung zu verschaffen.
Was wissen Sie über die Schweiz? Was beeindruckt Sie, was finden Sie schlecht?
Eine meiner Töchter heiratete einen Schweizer und lebt in der Nähe von Chur. Wenn ich zu ihr sage: «Mensch, die Schweiz ist doch so ein kleines, niedliches Land. Komm doch zurück », dann sagt sie: «Papa, die Schweizer sind so liebenswert, so offen. Das, was miefig ist, ist Deutschland.» Wie ich sehe, hat meine Tochter ihr Herz nicht nur an einen Schweizer, sondern auch an das Land verloren. Und das gibt mir zu denken.
Sie wuchsen in Braunschweig auf. In einer mittelständischen Familie, als jüngstes von drei Kindern. Ihr Vater war Angestellter, Ihre Mutter Verkäuferin. Was hat Sie am meisten geprägt?
Nichts wird dir geschenkt, alles musst du dir selbst erarbeiten. Und: Lass dich nicht unterkriegen. Meine Frau sagt immer, ich sei der grösste Optimist, den sie kenne. Für mich gilt der Satz: «Geht nicht gibt’s nicht.»
Sie studierten Volkswirtschaft, zusätzlich Recht. Sie sind Anwalt und als Spitzenkandidat der FDP einer der bekanntesten Politiker von Deutschland. Auf welche Ihrer Leistungen sind Sie besonders stolz?
Darauf, dass meine Kinder vernünftige Menschen geworden sind, die ihr Leben gestalten können und wollen. Sie ruhen in sich selbst, entscheiden eigens und wollen sich von niemandem bevormunden lassen. Ich bin wirklich stolz auf meine beiden Töchter.
Was vermissen Sie am meisten in der Zeit von Lockdown und Home-Office?
Mir geht es immer noch vergleichsweise gut. Aber mir fehlen auch persönliche Gespräche mit Freunden und Bekannten. Ich liebe es, mit meiner Frau gemeinsam essen zu gehen. Ich finde es beeindruckend, dass wir nach dreissig Jahren noch tagelang zusammen sein können, ohne uns die Augen auszukratzen. Wir kochen jetzt sogar wechselseitig, und das schmeckt erstaunlicherweise gut.