Weltwoche Editorial 15/20

Editorial

Raus aus dem Käfig

Von Roger Köppel

Noch nie hatten die Regierungen so viel Macht auf der Grundlage so lückenhafter Daten. Allmählich sehen wir klarer. Der Lockdown muss enden.

U

Um Besserwisserei zu vermeiden: Das Coronavirus ist weitgehend unbekannt. Man weiss wenig und wusste am Anfang noch weniger. Gegen diesen Erreger haben die Menschen noch keine Immunität. Wenn sich so etwas schnell ausbreitet, sind alle überfordert. Regierungen ohnehin. Niemand will es auf die leichte Schulter nehmen. Keiner geht ein Risiko ein. Vor dem Ungewissen herrscht die Panik.

Trotzdem müssen die Politiker für ihre Entscheide geradestehen. Die Regierungen regieren mit diktatorischen Vollmachten. Um Ansteckungen zu vermeiden und Leben zu retten, haben sie ganze Kontinente eingesperrt und die Wirtschaft an die Wand gefahren. Langfristig wird die Krise Gutes produzieren. Aber das Leben ist nur ein kurzer Lichtspalt zwischen zwei ewigen Dunkelheiten. Es fällt ins Gewicht, was man in der Gegenwart kaputtmacht.

Ziehen wir eine erste Bilanz. Italien und Spanien haben aufgerundet etwa 30 Corona-Tote auf 100 000 Einwohner. Das ist mit Abstand der höchste Wert weltweit. Schlimmer als China. Die Schweiz hat mit rund 9 Toten auf 100 000 Einwohner über dreimal weniger. Schweden liegt um den Faktor sechs tiefer. In Italien und Spanien stürzten die Gesundheitssysteme ein. Vermutlich ist es der Worst Case unter den Industriegesellschaften. Schwerer sollte es keinen anderen treffen.

Wie schlimm ist die Corona-Krise? Brechen wir die italienischen Desaster-Zahlen auf die Schweiz herunter. Wir sind zwar viel besser dran, Tendenz positiv, aber das Italien-Beispiel markiert eine Art Obergrenze des Schreckens. 30 Tote pro 100 000 Einwohner ergäbe für die Schweiz eine Gesamtzahl von 2550 Menschen, die schlimmstenfalls mit oder an Corona sterben. Stand heute beträgt das Durchschnittsalter der Schweizer Corona- Toten 83 Jahre. 97 Prozent davon hatten eine oder mehrere Vorerkrankungen. Die durchschnittliche Lebenserwartung in der Schweiz beträgt 83 Jahre. Zum Vergleich: Während der Grippesaison 2015 starben in der Schweiz 2500 Menschen. Das mit Abstand dramatischste Corona-Szenario wäre ungefähr so schlimm wie die letzte grosse Grippewelle.

Klar: Die Zahlen steigen noch. Und sie sind mit Vorsicht zu betrachten. Bei der katastrophalen Spanischen Grippe am Ende des Ersten Weltkriegs war die zweite Welle tödlicher als die erste. Als sich die Menschen sicher glaubten, schlug die Krankheit nochmals zu. Auch das Coronavirus ist nicht besiegt. Nach dem Lockdown könnte sich die nicht immune Mehrheit der Bevölkerung anstecken. Die aktuellen Sterbequotienten verschlechtern sich vielleicht. Trotzdem: Es ist schwer vorstellbar, dass die Schweiz italienische Verhältnisse erlebt mit Spitälern als Virenherden. Und selbst in diesem unwahrscheinlichen Extremszenario käme sie kaum schlechter durch die Corona-Krise als durch die letzte grosse Grippewelle.

Haben wir es mit den Gegenmassnahmen übertrieben? Die Frage drängt sich auf. Die Ansteckungskurven verflachen sich. Nicht einmal im Tessin sind die Spitäler überlastet. Die Zahl der täglichen Corona-Toten nähert sich in der Schweiz dem Nullpunkt. Die volkswirtschaftlichen Kosten des Lockdowns betragen nach Schätzungen vier Milliarden Franken wöchentlich, steil steigend. Der Bundesrat hat ohne Parlamentsbeschluss bereits Geldspritzen in der -Höhe von mindestens 61 Milliarden Franken bewilligt, ein Himalaya von Steuerzahlergeld. Mit solchen Summen liesse sich mühelos die AHV sanieren oder ein Grippezentrum bauen mit 5000 Intensivbetten, verteilt auf mehrere Kantone. Es ist gespenstisch, wie leicht- und freihändig diese Beträge gesprochen werden in einem Land, das jahrelang über Trottoir-Verbreiterungen oder Kampfjets streiten kann.

Natürlich wird der Bundesrat beteuern, er habe mit seinem Durchgreifen Schlimmeres verhindert. Er wird auf die anderen Länder zeigen. Die Experten werden Kurven finden, um die horrenden Ausgaben zu rechtfertigen. Ihre Beteuerungen bleiben unbeweisbar. Das ist ihr Trumpf. Doch allmählich realisieren wir: Noch nie hat eine Schweizer Regierung auf der Grundlage so dürrer Daten und Modelle so weit reichende Entscheidungen getroffen. War es wirklich nötig, alle Geschäfte zu schliessen? Hätte man sich mit einem Notvorrat an Gesichtsmasken den Lockdown ganz oder teilweise sparen können? Warum wurden die Kinder aus den Schulen genommen, wo doch die Krankheit vor allem die älteren Risikogruppen trifft? Haben wir unsere Wirtschaft erwürgt, nur weil es der Bund versäumte, genügend Beatmungsplätze zu installieren? Bis heute ist die Regierung eine Erklärung schuldig geblieben, auf der Basis welcher Fakten und Zahlen sie ihre Politik konzipiert. Und allenfalls zu ändern gedenkt.

Die Medien loben die Strategie des Bundesrats. Hatte er denn eine? Dass sich Viren nicht mehr verbreiten, wenn alle zu Hause bleiben, weiss jedes Kind, nachdem es erstmals heftiger an Grippe erkrankt ist. Man braucht kein Heer von Epidemiologen und Virologen, um den Entscheid der allgemeinen Selbsteinbunkerung zu begründen. Jetzt, da die Kurven des Unheils weniger gefährlich aussehen als befürchtet, ist es höchste Zeit für den Ausstieg aus dem Gefängnis der Quarantäne. Risikobasierte Szenarien liegen bereit. Wir müssen raus aus dem Käfig. Und zurück ins richtige Leben.

Hilft uns Corona, die Prioritäten zu justieren? Gesundheit ist wichtig, keine Frage, aber Gesundheit ist nicht alles. Die Menschheit wird krank und stirbt, wenn sie für ihre Gesundheit ihre wirtschaftliche Existenzgrundlage opfert. Wirtschaft ist nicht Gegenteil, sondern Voraussetzung der Volksgesundheit. Ohne Wirtschaft verhungern die Leute, gibt es keine Industrie, keine Medikamente, keine Altersvorsorge, kein Gesundheitswesen. Simple Wahrheiten gehen vergessen in Zeiten des Wohlstands. Dank der Seuche kehrt die Wirklichkeit zurück. Der Sinn für Grenzen. Eine Welt, die ohne Gott lebt, verdrängt auch den Tod. Man kann ihn nicht besiegen. Nicht mit allem Geld der Welt.

Beginnen Sie mit der Eingabe und drücken Sie Enter, um zu suchen