Weltwoche Editorial 13/20

Editorial

Finstere Fragen

Von Roger Köppel

Alles zu opfern, um alle zu retten, kann keine Strategie sein. Wir müssen über Ausstiegsszenarien reden.

A

ls ich dies schreibe, sitze ich fast allein in meiner Firma. Die meisten Kollegen arbeiten zu Hause. Im Produktionsraum hält ein Rumpfteam heldenhaft die Stellung. Meine Assistentin telefoniert, bis die Drähte glühen. Wir halten Abstand. Bei Sitzungen sind die Fenster offen. Ich habe gelesen, dass Viren Durchzug und Sonnenstrahlen nicht lieben. Draussen hat es fast keine Autos auf den Strassen. Auch die Züge sind leer. Ein alter Filmtitel kommt mir in den Sinn: «Der Tag, an dem die Erde stillstand».

Eine Leserin fragt mich, wie ich im Corona-Gewitter die Übersicht behalte. Ich ringe. Ich schwimme gegen das Ertrinken an. Täglich erreichen mich Hunderte von Zuschriften, Fragen, Fakten, Videos, Statistiken. Die Bandbreite geht von Katastrophe bis Entwarnung. Den Extremdiagnosen misstraue ich. Im Fernsehen erkenne ich Politiker, denen es wie mir geht, die sich aber nichts anmerken lassen dürfen. Ab und zu ruft mich mein Finanzchef an, um die neusten Meldungen über den Zusammenbruch der Wirtschaft mitzuteilen. Zuversichtlich schaue ich in den Abgrund.

Natürlich lehrt uns die Corona-Krise Demut. Wir hatten es verdrängt. Es gibt grössere Mächte. Seuchen kehren zurück, nicht nur in den schwindenden Urwäldern, auch bei uns. Niemand weiss, was kommen wird. Verlässliche Zahlen fehlen. Unseriös sind Sterberaten und Horrorszenarien auf der Grundlage unvollständiger Daten. Gleichzeitig ist die Geschwindigkeit der Infektionen beängstigend. Die Virologen widersprechen sich auf höchstem Niveau. Tröstlich ist, dass in unsicheren Zeiten auch die Weisheit der Experten keine letzten Gewissheiten liefert. Man kann die Mühsal des Selberdenkens nicht an höhere Instanzen übertragen.

Wir leben uns in den Kontrollverlust ein. Eine merkwürdige Empfindung greift um sich. Je mehr wir zueinander Distanz halten, desto näher kommen wir uns. Wenn Politiker von Solidarität reden, befällt mich üblicherweise ein Grauen, aber heute staune ich. Nicht nur die Schweiz, ganze Länder, ja Erdteile, Zivilisationen, Hunderte Millionen von Menschen sind bereit, aus Selbstschutz, aber vor allem auch aus Rücksicht auf andere ihre Freiheit einzuschränken, preiszugeben. Wer daran zweifelte, merkt es jetzt: Der Mensch ist mehr als die Summe seiner Egoismen.

Bei Corona geht es um Leben und Tod. Das ist unbestritten. Wir sehen die schrecklichen Bilder aus Italien. Wir fragen uns, ob wir die Bedrohung unterschätzen. Zugleich erreichen uns fürchterliche Nachrichten aus der Wirtschaft. In den USA rechnen Konjunkturexperten mit einem Anstieg der Arbeitslosigkeit um 30 Prozent – innerhalb von einer Woche. Chefökonomen sehen allein für das zweite Quartal einen Wirtschaftsrückgang von 25 bis 30 Prozent. Solche Abstürze entfalten ihre eigene zerstörerische Dynamik für ganze Gesellschaften. Unruhen drohen, vielleicht Rebellionen. Was passiert, wenn Italien kippt? Kann die Euro-Zone in Flammen aufgehen? Man weiss es nicht und misstraut jenen, die behaupten, sie wüssten es.

Bei Corona geht es um Leben und Tod, gewiss, aber es geht eben nicht nur um Leben um Tod. Es geht auch um Wohlstand. Es geht um Frieden, um die Zukunft. Die dringliche Frage lautet: Wann und unter welchen Umständen heben wir den Ausnahmezustand wieder auf? Haben wir eine Strategie? Wagen wir es überhaupt, eine Strategie zu formulieren? Es ist unwahrscheinlich, dass wir die Seuche in Kürze überwunden haben werden. Auch Impfstoffe können noch monatelang auf sich warten lassen. Soll der Stillstand drei Wochen dauern? Drei Monate? Bis Ende Jahr? Wie lange überlebt die Wirtschaft ohne Sauerstoff? Brutaler ausgedrückt: Wir werden eine präzise Vorstellung davon entwickeln müssen, bei welcher konkreten Zahl von Ansteckungen und Toten wir bereit sind, die Quarantäne teilweise oder vollständig wieder aufzuheben.

Mein Eindruck ist, dass der Bundesrat seine Sache gut macht. Nach einer merkwürdig roboterhaften ersten Pressekonferenz hat sich die Regierung aufgefangen. Sie bemüht sich augenscheinlich um einen nuancierten Weg zwischen den Panikverbreitern und den Verharmlosern. Der Bundesrat strahlt Augenmass aus und die Bereitschaft, zwischen der Gesundheit der Bevölkerung und dem Weiterbestand der Wirtschaft zu balancieren. Da die Zahl der Toten in den nächsten Tagen steigen wird, könnte die Politik allerdings versucht sein, sich auf die Seite der Gewerkschaften zu schlagen, die den endgültigen Stillstand fordern. Das wäre gefährlich. Die Linke scheint die Corona-Krise auch benutzen zu wollen, um die staatliche Kontrolle der Wirtschaft auf Dauer auszubauen.

Wie viel darf ein Menschenleben kosten? Das ist die böse Frage, der die Politik nicht ausweichen darf. Alles zu opfern, um alle zu retten, ist keine Strategie. Es braucht einen Ausstiegsplan. Noch hat ihn der Bundesrat nicht. Eine Variante könnte so aussehen: Angesichts der zunehmenden Ansteckungen ist bis zum 19. April alles Mögliche zu unternehmen, um die Überforderung des Gesundheitswesens zu verhindern. Danach sollte man sich auf den Schutz der besonders Gefährdeten konzentrieren, das Testen ausbauen und die weniger Gefährdeten wieder in die Schulen und in die Betriebe zurückkehren lassen. Die Schweiz muss versuchen, dorthin zu kommen, wo Südkorea heute steht. Es geht nicht ohne die Bereitschaft, eine gewisse Zahl von Toten in Kauf zu nehmen.

Wie muss eine Regierung, wie muss eine Gesellschaft, die sich das Reden über Leben und Tod abgewöhnt hat, mit solchen Fragen umgehen? Der Bundesrat sollte die Bürger mit seinem Dilemma konfrontieren. Besser früher als später. Offenheit hilft. Die Landesregierung sollte jetzt anfangen, ganz konkret über Zahlen zu reden. Bei wie viel Ansteckungen, bei wie viel Toten soll das Notfallregime gelockert werden, an welchem Punkt enden? Wir brauchen eine Sprache für das Unaussprechliche. Wohlstand gegen Gesundheit: In Zeiten der Seuche ist nicht beides absolut zu haben. Die Lösung ist relativ. Kompromisse sind gefragt. Die Schweiz muss wieder lernen, mit den finsteren Alternativen zu leben – und umzugehen.

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