Weltwoche Editorial 11/20

Editorial

Schwuler Schwinger

Von Roger Köppel

Geschichte eines Annäherungsversuchs.

G

rossartig, dass der Schwinger Curdin Orlik seine Homosexualität öffentlich gemacht hat. Ich respektiere das und sehe die seelischen Kämpfe, die einer solchen Entscheidung zugrunde liegen. Allerdings sind sexuelle Vorlieben Privatsache. Meine Bereitschaft, mich durch die Neigungen anderer behelligen zu lassen, kennt Grenzen. Spielt es überhaupt eine Rolle, ob einer Männer oder Frauen anziehender findet? Für die Medien freilich war es ein Fest, als ob die Menschheit eben den Mars besiedelt oder ein Medikament gegen Krebs oder Corona entwickelt hätte.

Völlig in die Hose allerdings ging der Versuch, die Orlik-Story zum gesellschaftspolitischen Befreiungsschlag in der Schwingerbranche hochzustemmen. Man machte ein riesiges Theater um die Tatsache, dass sich hier ein muskelbepackter Kraftsportler ausgerechnet in einer ureidgenössischen, also konservativen Männerdisziplin zu seinem Schwulsein bekannte. In der Sägemehlszene löste die Orlik- Meldung allerdings keinen Aufstand der Ressentiments, sondern neben Überraschung vor allem Wohlwollen und Verständnis aus.

Warum irritiert mich die Geschichte? Vielleicht deshalb, weil die Enthüllung etwas Forciertes hatte. Mit dem Bekenntnis von Orlik war die Forderung verbunden, dass wir nun alle kollektiv bekräftigen sollten, nichts gegen Schwule zu haben. Ich habe nichts gegen Schwule, und ich bin der Meinung, dass gleichgeschlechtliche Paare in den Vollgenuss aller Rechte wie in einer Ehe kommen sollen. Von mir aus ist es auch in Ordnung, wenn homosexuelle Paare Kinder adoptieren können. Ich habe zu viele dysfunktionale «Normal»-Familien, drogensüchtige oder alkoholkranke Eltern gesehen. Da schneiden aus Kindersicht fast alle anderen Konstellationen besser ab.

Was mich aber stört, ist der Umstand, dass auch diese Coming-out-Story mit der unterschwelligen Anklage verbunden war, die Schweizer und insbesondere die ländlichen Schweizer seien besonders schwulenfeindlich. Das ist Unsinn. Wenn die Schweiz in den letzten Jahren schwulenfeindlich geworden ist, dann sicher nicht wegen des Schwingsports. Wenn schon, aber auch das ist nichts Neues, müsste man die Zuwanderung aus bestimmten muslimisch geprägten Ländern anschauen, in denen Homosexuelle routinemässig eingesperrt oder gesteinigt werden. Darüber schreiben die migrationsgläubigen Journalisten nicht so gern.

Schwulenfeindlich ist jeder, der nicht schwul ist. Tatsächlich wurde in manchen Orlik-Berichten als Indiz einer möglichen Schwulenfeindlichkeit die Tatsache ausgemacht, dass für viele Schweizer Homosexualität noch nicht das «Normalste der Welt» sei. Entschuldigung, ich habe nichts gegen Schwule oder Lesben, aber ich bin auch nicht der Ansicht, Schwulsein sei «das Normalste der Welt». Wer fordert, dass Homosexualität das «Normalste der Welt» sei, erklärt die Homosexualität zu einer Normalität, die sie nicht ist. «Normaler», um in diesen Kategorien zu bleiben, ist trotz aller Toleranz und Offenheit immer noch die Sexbeziehung zwischen Mann und Frau.

Nichts gegen die Beseitigung echter Diskriminierungen von Homosexuellen. Aber wir müssen die gleichgeschlechtliche Liebe deswegen ja nicht gleich zum neuen Industriestandard erheben. Und die Schwingerszene muss sich nach dem Coming-out eines ihrer Spitzenathleten sicher nicht einer «Reifeprüfung » stellen, wie die NZZ, verdächtigend auf Vorrat, schreibt. Nicht die Journalisten haben ihre Unterschiebung mit Beispielen zu begründen. Vielmehr sollen die Schwinger ihre Unschuld beweisen. Der Kulturjournalist Rico Bandle drückte es so aus: «Die Vorurteile der Städter gegenüber der ach so rückständigen Landbevölkerung sind wohl grösser als jene der Landbevölkerung gegenüber Schwulen und Lesben.»

Steckt dahinter eine Absicht? Klar. Die meisten Journalisten sind städtisch und links, grün bis rot. Der Durchsetzung ihrer Ideale steht naturgemäss vor allem die ländliche Schweiz entgegen. Darum kommt sie in den Medien oft schlecht weg. Dass man die Schwingerszene zu einem möglichen Hort reaktionärer Geschlechtervorstellungen erklärt, passt ins Bild und ist Teil der Strategie. Wenn du eine Sache bekämpfen willst und dir die Argumente fehlen, mach den Absender verächtlich, damit ihm niemand mehr zuhört. In den Unterstellungen rund um Orlik schwingt die alte Überheblichkeit der fortschrittlichen Städter gegenüber den angeblich hinterwäldlerischen ländlichen Gebieten mit.

Vielleicht kann man die Orlik-Story aber auch etwas anders deuten. Möglicherweise ist sie Ausdruck einer neuen, fast intimen Tuchfühlung. Bis vor wenigen Jahren interessierten sich die Grossstadtmedien kaum für das Geschehen im Sägemehl. Heute ist Schwingen Kult und wird von allen Seiten vereinnahmt, von der Politik, von der Wirtschaft, von den Banken, von den Journalisten. Das kann nicht ohne wechselseitige Durchdringung abgehen. Mit Curdin Orlik haben die Medien eine ideale Identifikationsfigur entdeckt, mit der sie ihre eigenen gesellschaftspolitischen Vorstellungen auf den Schwingsport übertragen können. Die Geschichte des schwulen Schwingers ist, so gesehen, auch die Geschichte eines Annäherungsversuchs von Journalisten gegenüber einem Milieu, das ihnen bisher fremd und verschlossen geblieben ist.

Stadt und Land rücken zusammen dank einem homosexuellen Schwinger. Das wäre erfreulich. Und vielleicht realisieren die städtischen Journalisten, dass die Schwinger moderner und aufgeschlossener sind als ihre urbanen Interpreten. In ihrem Sport kommt die ganze Vielfalt der Schweiz längst zum Ausdruck. Es gibt weisse und schwarze Schwinger, Schwinger mit oder ohne Migrationshintergrund, perfekt integriert, Bauern und Akademiker, Familienväter, Geschiedene, Singles, Frauen und seit jüngstem auch einen aktiven bekennenden Homosexuellen. Wer das für sensationell hält, unterschätzt die ländliche Schweiz und die traditionellste ihrer Sportarten wohl etwas. Die Städter sollten sich von der Landschaft häufiger inspirieren lassen.

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