Weltwoche Editorial 10/20

Editorial

Wie lange noch?

Von Roger Köppel

Jedes Jahr wandert eine Stadt Biel in die Schweiz ein. Netto. Die Zuwanderung ist zu ihrem eigenen Schneeballsystem geworden.

U

nd wieder einmal droht die Schlacht der Schlachten. Die Lager gehen in Stellung. Die Manöver laufen. Nicht einmal das Coronavirus konnte die Zuspitzung aufhalten. Ohne Rücksicht auf Verluste und Ansteckungen ziehen die Parlamentarier ihre Frühlingssession durch. Sie steht im Zeichen der Volksabstimmung vom 17. Mai. Dannzumal sollen Volk und Stände Stellung nehmen zur Begrenzungsinitiative der SVP. Das Vorhaben will, wie der Name sagt, die Zuwanderung aus der EU in die Schweiz begrenzen. Alle anderen Parteien, der Bundesrat, die Kirchen, die meisten Zeitungen, Verbände, Kulturschaffenden, Fernsehstationen sind dagegen. Die Ausgangslage wirkt nicht gänzlich unvertraut.

Und die SVP? Sie wird gerade etwas unterschätzt. Die Wahlverluste vom letzten Herbst haben die Gegner und die mit ihnen innig verbundenen Journalisten euphorisiert. Man lächelt und witzelt über die Partei, die immer noch mit Abstand die grösste des Landes geblieben ist. In den Ab- und Hohngesängen schwingen Ängste mit. Tief sitzt den SVP-Gegnern der Schock der letzten grossen Zuwanderungsabstimmung vom Februar 2014 in den Knochen. Damals wurde schon einmal eine übermütige und in den Medien übervertretene Minderheit, die sich für die Mehrheit hielt, kollektiv auf dem falschen Fuss erwischt. Gegen fast alle Prognosen und Hochrechnungen sagten die meisten Stimmbürger und Kantone nein zur Masseneinwanderung in die Schweiz. Das soll diesmal mit allen Mitteln verhindert werden.

Ob es gelingt? Die Umfragen und Voraussagen geben den SVP-Gegnern Oberwasser. Die Initiative werde abgelehnt, sogar deutlich, heisst es. Ungeachtet dessen fahren die Migrationsvorantreiber mit den schweren Waffen auf. Die Konzerne steigen mit Millionen auf die Barrikaden. Viele Chefs, vor allem ausländischer Herkunft, sind Feuer und Flamme gegen die Zuwanderungsbeschränkung. Vielleicht auch deshalb, weil sie ein Interesse an einem Überangebot an möglichst günstigen Arbeitskräften haben. Unterstützt von den Grossverlagen und dem staatlichen Fernsehen, malen sie das Bild einer einstürzenden Wirtschaft an die Wand, sollte die Schweiz bei der Einwanderung die EU enttäuschen. Es sind Hypothesen und Prognosen, weltuntergangsmässig vorgetragen, aber eigentlich nur theoretische Gespinste, geschürte Szenarien der Angst. Niemand weiss, was die Zukunft bringen wird. Als die Wirtschaft vor 28 Jahren bei einer anderen EU-Abstimmung mit dem Wohlstands-Kollaps drohte, passierte gar nichts. Im Gegenteil. Es kam der Aufschwung.

Noch ist der Kampf nicht entschieden. Genauso wenig wie in den USA Präsident Trump die Wahlen auf sicher hat, ist die Begrenzungsinitiative der SVP verloren. Gegen die düsteren Weissagungen ihrer Gegner kann die Volkspartei einen simplen Trumpf ausspielen: die konkrete Lebenserfahrung der Leute. Die Skeptiker der Massenzuwanderung haben die Wirklichkeit auf ihrer Seite. Man muss keine Statistiken oder Faktenblätter lesen. Es braucht kein volkswirtschaftliches Studium. Der persönliche Augenschein reicht. Die Eisenbahnen platzen aus allen Nähten. Verspätungen, Zugausfälle häufen sich. Die Infrastrukturen überquellen. Auf den Strassen stauen sich die Autos, die Kosten gehen in die Milliarden. Die grossen Verkehrsachsen leiden unter akuter Verstopfung. Die einst gemütliche Schweiz ist zu einer Zone des Nahkampfs auf engstem Raum geworden.

Den Leuten wird erzählt, die massive Zuwanderung habe alle reicher gemacht. Wenn das stimmt, ist es ein Wohlstand, der unten nicht anzukommen scheint. Oder nicht bemerkt wird. Bei den über Fünfzigjährigen stagnieren die Löhne, während der Arbeitsplatz unter Druck kommt. Hingegen steigen – wegen der migrationsgetriebenen Nachfrage – die Mietkosten. Die Zahl der Sozialhilfebezüger zwischen 60 und 64 hat sich in den letzten zehn Jahren um fast 50 Prozent erhöht. Um die Härten bei den älteren Arbeitslosen abzufedern, hat der Bundesrat, anstatt das Übel an der Migrationswurzel zu packen, für tief geschätzte 230 Millionen Franken jährlich eine neue Sozialversicherung lanciert. Gleichzeitig behauptet die Regierung, die Zuwanderung verdränge die Älteren nicht. Wenn es so ist, warum muss dann die «Überbrückung» auf Teufel komm raus noch in dieser Frühlingssession vor der Abstimmung durchgeboxt werden?

Zone des Nahkampfs.

Die Besorgten reden nicht von Zukunftsprognosen oder Hypothesen, es ist die Wirklichkeit. Seit 2007 sind jedes Jahr netto 75 000 Menschen in die Schweiz eingewandert, davon 50 000 Menschen aus der EU. Das ergibt in der Summe ein Bevölkerungswachstum von einer Million Menschen innerhalb von dreizehn Jahren. Inzwischen hat die Schweiz eine höhere Pro-Kopf-Einwanderung als die USA oder Australien. Ist das noch gesund? Wenn Jahr für Jahr eine ganze Stadt Biel einwandert, braucht es nicht nur Wohnraum, Schulen und Spitäler. Es braucht auch zusätzliches Personal, um die Zuwanderung zu bewältigen. Die Migration erfordert immer noch mehr Migration, damit die Migration mit weiterer Migration verkraftet werden kann. So ist die Masseneinwanderung zu ihrem eigenen Schneeballsystem geworden. Das muss die SVP, die in diesem Wahlkampf weniger pompös auftritt als die Gegner, nicht einmal besonders hervorheben. Die Leute spüren es, ohne dass man es ihnen sagt.

Gewiss kann man die Meinung vertreten, noch habe die Schweiz die Situation im Griff. Das Mittelland ist kein Singapur. Genf sieht nicht aus wie Lagos. Schaut nur die schönen Berge! Die nagende Frage bleibt: Wie lange soll es so weitergehen? Wie viel sollen kommen? Wann ist genug? 10 Millionen Einwohner? 20 Millionen? 50 000 Menschen netto plus, Jahr für Jahr. Jahr für Jahr. Machen wir so lange weiter, bis niemand mehr freiwillig in die Schweiz einwandert, weil sich Wohlstand und Lebensqualität auf einem unattraktiv tiefen Niveau eingependelt haben? Migration, die sich selber ins Elend reguliert.

Personenfreizügigkeit heisst, dass 500 Millionen EU-Bürger entscheiden können, ob sie in die Schweiz kommen wollen. Der Bundesrat hat den Haustürschlüssel bilateral an Brüssel abgegeben. Die Schweizer haben die Kontrolle über die Zuwanderung verloren. Die Wohnung ist offen, der Kühlschrank steht zur Verfügung. Die Befürworter dieses Irrwegs haben es allerdings geschafft, alle für verirrt zu erklären, die den Irrweg stoppen wollen. Das ist ihre grösste Leistung. Wie lange kommen sie mit diesem Trick noch durch?

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