Hölle der Vernichtung
Von Roger Köppel
Vor 75 Jahren wurde das Ermordungslager Auschwitz befreit. Wie war es möglich, dass das Böse über die Welt kam? Und was lernen wir daraus?
or drei Jahren hat der britische Historiker Laurence Rees ein einbändiges Meisterwerk über den Holocaust geschrieben. Sein Buch beginnt mit der Geschichte der Jüdin Freda Wineman. Die damals zwanzigjährige Frau wurde 1944 zusammen mit ihrem Baby, ihrer Mutter und ihren drei Brüdern David, Armand und Marcel in Saint-Etienne von französischen Nazi-Kollaborateuren verhaftet. Man brachte die Familie ins berüchtigte Transitlager von Drancy bei Paris. Von dort ging es mit dem Zug nach Auschwitz-Birkenau. «Ihr einziges Verbrechen», schreibt Rees, «war, dass sie Juden waren.»
Als sie in Auschwitz ankamen, fiel Freda Wineman als Erstes der bestialische, wie sie erzählte «höllische» Gestank auf. In Uniformen gekleidete Häftlinge, Sonderkommandos, sagten ihr, sie solle ihr Baby ihrer Mutter geben. Es sei besser, wenn junge Frauen ohne ihre Kinder vor die Nazi-Mediziner träten. Darauf hiess man die Neuankömmlinge, an der «Rampe» zwei Reihen zu bilden. Freda Wineman stellte sich bei den Frauen an. Als ihre Mutter mit dem Baby die Spitze der Reihe erreichte, sagte ihr ein SS-Arzt, möglicherweise Josef Mengele, sie solle nach rechts gehen, während die Tochter, Freda, nach links abkommandiert wurde.
Fürsorge bringt den Tod
Fredas ältester Bruder David sah, dass die Mutter mit dem Baby nach rechts ging. Er schickte ihr seinen kleinen Bruder Marcel, dreizehnjährig, hinterher im Glauben, er sei bei der Mutter besser aufgehoben als bei den Männern. Was damals weder Freda noch ihr älterer Bruder wussten: Sie hatten eben an einem mörderischen Selektionsprozess teilgenommen. Die Nazis hatten keine Verwendung für Kinder, Alte und Schwache. Sie entschieden blitzschnell und vergasten sie gleich nach der Ankunft. Das war die Mehrheit. Allen anderen drohte ein späterer Tod. Erst nach dem Krieg und ihrer Befreiung 1945 erfuhr Freda Wineman, dass ihre Mutter, ihr Baby und ihr jüngerer Bruder an jenem ersten Tag in Auschwitz ermordet worden waren.
Wie war das alles möglich? Wie konnten es die Deutschen zulassen, dass ihre Regierung die Welt mit solchen Scheusslichkeiten überzog? Warum kam es zu einer Situation, in der die normalsten zwischenmenschlichen Regungen wie Fürsorge und Zuneigung den Tod bringen konnten? Die junge Frau, die ihr Baby abgibt, weil sie glaubt, dadurch ihr eigenes und das Leben ihres Kindes zu schützen, schickt es damit ins Verderben. Der junge Mann, der seinen jüngsten Bruder der Obhut der Mutter überlässt, verursacht gerade dadurch dessen Tod. Auschwitz war ein Ort des Bösen, an dem die Werte in ihr Gegenteil verkehrt wurden, eine menschengemachte Hölle der Vernichtung, ins Werk gesetzt von der rechtmässigen Regierung eines Landes, das damals zu den führenden der Welt gehörte.
Wie konnte es so weit kommen? Warum ausgerechnet die Deutschen? Hätte man zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Umfrage gemacht, welches das antisemitischste Land Europas sei, dann hätten viele der Befragten angesichts der Affäre um den jüdischen Hauptmann Dreyfus wohl Frankreich genannt. Der grösste Rassentheoretiker und Nazi-Stichwortgeber war ein Brite. In Spanien und Russland hatte es in früheren Jahrhunderten fürchterliche Pogrome gegen Juden gegeben, Vertreibungen und Morde. Der politisch einflussreiche US-Autofabrikant Henry Ford war bekennender Antisemit. Deutschland vor Hitler jedenfalls war kaum judenfeindlicher als andere Staaten. Im Gegenteil. In Deutschland schien zu gelingen, was der Historiker Joachim Fest die «deutsch-jüdische Symbiose» nannte, das fruchtbare Zusammenwirken im Zeichen kultureller, wissenschaftlicher und industrieller Höchstleistungen.
Ohne Diktatur kein Holocaust
Nicht die Gesinnung der Leute machte den entscheidenden Unterschied. Neu und bis dahin einzigartig war, dass in einem zivilisierten, modernen Staat wie Deutschland ein Regime ans Ruder kam, das den Antisemitismus bald nach der Machtergreifung gleichsam zur Staatsreligion erklärte. Judenhass als Meinung ist ein Übel, dem man in der Demokratie mit Diskussion und Widerlegung beikommt, notfalls mit der Polizei. Richtig gefährlich wird es erst, wenn es der antisemitischen Minderheit gelingt, ihren Antisemitismus mit den Gewaltmitteln des Staates allen anderen aufzuzwingen. Hitler schaffte es, an die Macht zu kommen, und als er an der Macht war, beseitigte er alle, die sich seinem Machtanspruch und seinen Zielen in den Weg stellten. Der Versuch einer planvollen, systematischen Vernichtung des jüdischen Volkes war Ausfluss von Hitlers Ideologie, aber erst die Diktatur, die Beseitigung von Demokratie und Rechtsstaat, der die Macht fesselt, machte den Weg frei für die Umsetzung seiner zerstörerischen Fantasien.
Daraus folgt: Die Installierung der Diktatur in Deutschland war die alles entscheidende, notwendige Bedingung des Holocaust. In einer Demokratie wäre so ein Wahnsinn nie möglich geworden. Allerdings wird Hitler verharmlost, wenn man ihn einen Wahnsinnigen nennt. Wahnsinnig war er, aber eben nicht nur. Ein bloss Wahnsinniger kann ein hochzivilisiertes 62-Millionen-Volk nicht unter seine Kontrolle bringen. Der Fall Hitler zeigt allerdings die ewige Verführbarkeit der Menschen – nicht nur der Deutschen – durch fanatisierte Propheten, die vorgeben, den Weltuntergang abzuwenden. Ihre endzeitlichen Visionen und Erlösungsversprechen vermögen wenigstens für eine gewisse Dauer die Fantasie der Leute zu fesseln und hochzupeitschen. Es braucht nur die richtigen Umstände und den von seiner Mission beseelten Prediger. Die Geschichte kennt viele Hitlers. Tragischerweise hat sich der letzte eine der tüchtigsten Nationen der Welt gefügig gemacht. Und wer sich nicht fügte, starb, wurde eingekerkert oder gezwungen. Nur die abwehrbereite Demokratie mit ihren Institutionen der Machtzertrümmerung verhindert die staatliche Allmacht, ohne die es einen Holocaust nicht geben kann.
Gesinnung über Urteilskraft
Auschwitz war das Produkt eines ideologischen Zeitalters. Auschwitz steht für den «Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft», wie der Philosoph Hermann Lübbe formulierte. Die Vorstellung, die Nazis seien besonders amoralische oder verbrecherische Menschen gewesen, schafft uns Heutigen, die mit Schaudern in den Abgrund blicken, das wohlige Gefühl erhabener Distanz. Im Spiegel der Scheusale, Monster und Teufel erleben wir uns selber als das ganz andere, als moralisch überlegen, sozusagen imprägniert und immun gegen das Böse, das sich damals von Deutschland aus über die Welt verbreitete. Vielleicht sollten wir diese selbstschmeichlerische Illusion aufgeben. Die Nazis waren keine Ausserirdischen, die wie eine biblische Plage übers Land fegten. Die Vollstrecker des Holocaust kamen aus allen Etagen der Gesellschaft. An der Wannseekonferenz in Berlin, wo 1942 die «Endlösung» der Judenfrage bei Cognac entschieden wurde, sassen kultivierte Doktoren und Akademiker mit hohem IQ am Tisch. Sie würden heute indigniert die Nase rümpfen über das schlechte Benehmen und den miserablen Musikgeschmack der Jugendlichen. Die beunruhigendste und wichtigste Lehre aus Auschwitz ist, dass niemand sicher sein kann, dass nicht auch er oder sie in Wannsee mit am Tisch gesessen wäre. Macht korrumpiert, und mächtige Diktaturen korrumpieren absolut. Niemand ist immun. Jeder Mensch ist verführbar.
In seinem Buch zeichnet Laurence Rees die Geschichte dieser Korrumpierung, die auch eine Verführung war, erschütternd nach. Der Holocaust war ein stufenartiger Prozess mit zahlreichen Drehungen und Wendungen, eine Art schleichende, zuletzt dann sprungartige Eskalation des Bösen, die von den Beteiligten gar nicht unbedingt als böse empfunden wurde. Hier liegt das zweite grosse Missverständnis: Die führenden Nazis und vermutlich viele ihrer Untergebenen waren kaum der Meinung, ein Verbrechen zu begehen. Sie waren überzeugt, sie glaubten, redeten sich ein, sie wären Teil eines grossartigen, wenn auch weithin noch unverstandenen Projekts der Menschheitsreinigung, der planetarischen Rettung. Hitler hatte den Plan in seinem Weltbestseller «Mein Kampf» bildhaft vorgezeichnet, als er sinngemäss schrieb, die Erde werde nur noch als leblose, unbewohnbare, auch ökologisch ruinierte Kugel durchs All rotieren, wenn es nicht gelänge, die Urheber allen Übels, die Juden, auszurotten. Mit dieser Motivation vor Augen, mit dem Ziel, die angeblich drohende Apokalypse durch einen Völkermord abzuwenden, machten sich Hitlers Schergen ans Werk, ermächtigten sie sich, Moralisten des Untergangs, das grösste und obszönste Verbrechen der Geschichte in Gang zu setzen.
Das grösste Verbrechen war der Holocaust auch deshalb, weil die Nazis nicht bei der Vernichtung der Juden stehengeblieben wären. Der Judenhass bildete den Glutkern, die fanatische Antriebsenergie ihrer umfassenden vulgärdarwinistischen Philosophie der nationalen Selbstzucht. Der Holocaust als Begriff ergibt nur Sinn im Horizont dieser weltgeschichtlich wohl einzigartigen Absicht, ein ganzes «Volk», eine Gruppe von Menschen einzig aufgrund einer ihnen zugeschriebenen «Rasse», die eigentlich eine Religionszugehörigkeit ist, vollkommen und aktiv auszulöschen, und zwar mit den Instrumenten einer modernen, leistungsfähigen Industriegesellschaft, die für sich die höchsten wissenschaftlichen und moralischen Weihen beanspruchte. Mediziner, Professoren, Intellektuelle, Journalisten, Ingenieure, Forscher und hohe Offiziere fanden sich unter den glühendsten Verfechtern von Hitlers Grössenwahn des Mordens.
Licht im Abgrund
Dies allein legitimiert die Rede von der Singularität des Verbrechens, doch der Todeskult des «Führers» ging noch viel weiter. Seine «Euthanasieprogramme» richteten sich gegen Behinderte, Homosexuelle, Sinti und Roma, gegen alles Leben, das die Nazis für «nicht lebenswert » erklärten. Im Rahmen seiner «Lebensraum»-Politik im Osten hätten weitere Dutzende Millionen von «Slawen» sterben oder versklavt werden müssen. Wer wäre als Nächstes dran gewesen?
Natürlich gibt es auch im Abgrund, den Auschwitz vor uns aufreisst, Licht. Hitler wurde besiegt. Seine Armeen gingen unter. Nicht der rassistische Kasernenstaat unter einem Diktator, sondern die von den Nazis verachtete pluralistische Demokratie erwies sich als stärker. Die Französin Freda Wineman überlebte und traf 1945 wieder mit ihren beiden geretteten Brüdern David und Armand zusammen. Alle Insassen der Konzentrations- und Vernichtungslager, die dem Tod bis dahin entgangen waren, wurden von den heranrückenden Alliierten befreit.
Unser Taktgefühl verbietet, die gewaltigen Opfer mit dem Ausgang des Weltkriegs zu rechtfertigen. Jedes Opfer ist ein Opfer zu viel. Trotzdem: Die Guten haben gewonnen. Nicht das Böse setzte sich durch. Und eigentlich ist es ein Wunder, dass es nach der Katastrophe von Weltkrieg und Völkermord so schnell wieder aufwärtsging mit Frieden und Wohlstand für viele. Die Welt ist eben doch nicht verdammt. Wir leben. Ein jüdischer Staat entstand. Deutschland und Israel sind heute treue Partner. Die Erde ist ein besserer Ort geworden. Und doch erinnert uns Auschwitz daran, dass es in den Seelen der Menschen, aller Menschen finstere Stellen gibt.
Wenn das Böse in einem Land wie Deutschland durchbrechen konnte, kann es überall durchbrechen. Beim Anblick der schaurigen Denkmäler sollten wir nicht ein Gefühl moralischer Überlegenheit entwickeln, sondern Demut und Selbstmisstrauen.