NZZ-Gastkommentar

allgemein

Die Welt braucht eine neutrale Schweiz

Neutralität, schreiben die Medien, sei Feigheit, politisches Eunuchentum. Das Gegenteil ist richtig: Neutralität erfordert Kraft und Festigkeit. Mitmachen ist bequemer.

Von Roger Köppel, SVP-Nationalrat, Mitglied der Aussenpolitischen Kommission und Chefredaktor der «Weltwoche».

Am 4. August 1914 marschierte das deutsche Heer im neutralen Belgien ein. Es war eine empörende, die Schweiz aufwühlende Zertrümmerung des Völkerrechts. An den Bundesrat erging unter anderem aus Frankreich die gebieterische Forderung, die verbrecherische Schändung eines souveränen Kleinstaats durch eine europäische Grossmacht zu verurteilen.

Der Bundesrat wies das Ansinnen zurück: Der Schweiz falle «keine moralische Verpflichtung» zu, ihre Stimme «gegen die von der einen oder anderen Kriegspartei begangenen Völkerrechtswidrigkeiten» zu erheben. Eine solche Handlungsweise würde «in Widerspruch mit der durch Verfassung, Geschichte und Tradition und durch den unbeugsamen Volkswillen der Landesregierung auferlegten Staatsmaxime der Beobachtung absoluter Neutralität geraten».

Partei im Wirtschaftsweltkrieg

Es gibt nichts Neues unter der Sonne. Das Ende der Geschichte fand nicht statt. Kriege sind, leider, Teil der menschlichen Natur. Wir drohten es zu vergessen. Kaum hatte Europa begonnen, unter dem absehbaren Ende einer Pandemie aufzuschnaufen, überrannten die Armeen des imperialen Kreml-Herrschers Putin die Grenzen zur Ukraine. Die meisten Staaten verurteilten den kriegerischen Bruch des Völkerrechts. Diesmal reihte sich die Schweiz mit ein. Nach kurzer Bedenkzeit fand sich der Bundesrat sogar bereit, die EU-Sanktionen gegen Russland eins zu eins zu übernehmen.

Die Schweiz ist jetzt Partei im Wirtschaftsweltkrieg gegen das russische Volk. Unser Staat hat sich auf die Seite der Feinde Russlands geschlagen und damit seine mehrhundertjährige neutrale Tradition verletzt. Trotzig behauptet der Bundesrat das Gegenteil. Wirtschaftssanktionen seien kein Instrument des Kriegs. Die Neutralität bleibe gewahrt. Schön wär’s. Während die inländischen Medien unsere Regierung bei der Selbsthypnose unterstützen, hat der Kreml die Schweiz, erstmals in der Geschichte, auf die Liste der «unfreundlichen» Länder gesetzt.

Neutralität heisst, dass man keine Kriege anfängt und keine Kriege, auch keine Wirtschaftskriege, mitmacht, es sei denn, man werde selber angegriffen. Neutralität bedeutet zudem Nichtteilnahme an militärischen und politischen Bündnissen, die unser Land in fremde Konflikte hineinziehen können. Als 1939 die Panzer Hitlers mit dem Einfall in Polen den Zweiten Weltkrieg entfesselten, in ernster Stunde, war es den meisten Schweizern, von links bis rechts, wie selbstverständlich klar: Eine Preisgabe der «uneingeschränkten», «absoluten» Neutralität würde die Schweiz ins Grauen eines Weltgemetzels stürzen.

Diese staatsmännische Weisheit fehlt heute im Bundeshaus weitgehend. Auf den Neutralitätsbruch gegen Russland soll schon bald die endgültige Beerdigung der immerwährenden, bewaffneten Neutralität der Schweiz erfolgen. Der Bundesrat und eine Mehrheit der Parteien wollen unser Land im Uno-Sicherheitsrat an den Tisch der Supermächte setzen. Dieses Gremium entscheidet über Krieg und Frieden, spricht Sanktionen aus und verhängt Mandate, die bindend sein werden, selbst dann, wenn sich die Schweiz durch Stimmenthaltung einer Parteinahme entziehen möchte.

Neutralität, schreiben die Medien, sei Feigheit, politisches Eunuchentum. Das Gegenteil ist richtig. Neutralität erfordert Kraft und Festigkeit. Mitmachen ist bequemer. Der neutrale Staat misstraut dem schnellen Urteil, weigert sich, die Welt in ein einfaches Gut und Böse einzuteilen. Aus der Geschichte wissen wir: Die hinter den kriegführenden Völkern wirkenden Kräfte sind oft schwerlich zu durchschauen.

Demut und Zurückhaltung ist gefragt

Solche Einsichten können in unserer moralistisch durchtränkten Zeit als Provokation empfunden werden. Wohlverstanden: Neutralität verpflichtet die Schweizer nicht, den Mund zu halten, moralisch gleichgültig zu sein angesichts des Unrechts eines Angriffskriegs. Aber sie verpflichtet den Staat, den Bundesrat und auch die Bundesversammlung zu Demut und Zurückhaltung. Neutralität sei ein Produkt der Staatsraison, formulierte der Historiker Edgar Bonjour. Festgeschrieben in den Artikeln 173 und 185 unserer Verfassung, dient sie der inneren und äusseren Sicherheit der Schweiz.

Der Neutrale kann aber auch für die Welt von Nutzen sein. Es braucht einen weissen Fleck auf der Landkarte, einen allseits anerkannten Ort, an dem die Kriegsparteien sich ohne Waffen begegnen, miteinander reden können. Wenn alles in die Schützengräben steigt, sprechen ausschliesslich die Kanonen. Solange es neutrale Länder gibt, hat der Frieden eine Chance.

Israel macht es vor. Und Israel macht es besser als die Schweiz. Die neue Regierung verzichtete auf Sanktionen gegen Russland. Und siehe da: Ministerpräsident Naftali Bennett darf nach Moskau reisen als anerkannter Vermittler der Entspannung. Noch ist die Schweizer Neutralität nicht ganz verloren. Der Bundesrat kann seinen Fehler mit den EU-Sanktionen korrigieren. Beim Uno-Sicherheitsrat sollte er seinen Sitz dem Kleinstaat Malta überlassen. Die Schweiz braucht die Neutralität. Und die Welt braucht eine neutrale Schweiz.

Beginnen Sie mit der Eingabe und drücken Sie Enter, um zu suchen